Die Seelenjägerin - 1
Rute verbrennen können.«
»Und ich habe gehört, dass sie das nicht tun, weil es zu viel Lebenskraft kostet. Stimmt’s nicht, Hexenmädel?« Er fasste sie unter dem Kinn, sie schlug die schmierige Hand hart beiseite. »Für kleine Gaukeleien lässt sich die Hexenkunst schon einsetzen, aber bei so großen Dingen wäre das tödlich, und das lohnt sich doch nicht, mein Liebchen, nicht wahr?« Sein Grinsen war grotesk, er hatte den ganzen Mund voll abgebrochener Zahnstümpfe. »So viel Lebenskraft wirst du doch nicht vergeuden wollen?«
Ein anderer packte sie von hinten und zerrte sie zurück, um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie kannte das Manöver und stemmte sich unwillkürlich dagegen. Die Schlange in ihr schrie danach, freigelassen zu werden.
Beherrsche die Macht. Lass dich nicht von ihr beherrschen.
Ein dritter Mann ergriff ihren Arm. Sie riss sich mit Hilfe der Macht los, aber es war schon fast zu spät. Ein weiterer hatte bereits die Hand am Kragen ihres Wamses, sein Atem roch nach verfaulten Zähnen und nach Alkohol. Zu viele, zu schnell! Zu viele Hände, zu viele Ziele, sie konnte sich nicht konzentrieren. Die Macht konnte erst wirken, wenn sie ihr Form gab, und sooft sie einen Angreifer zurücktrieb, trat ein anderer vor. Eine mächtige Welle von geilem, stinkendem Männerfleisch drohte sie zu verschlingen …
Und plötzlich riss die Macht sich los, wallte auf und wütete mit einer Heftigkeit, die ihr den Atem nahm. Ein Feuersturm aus Angst, Wut und Hass raste durch ihren Körper, drohte ihr die Adern zu versengen, brach sich Bahn und erfasste die Betrunkenen. Ihr Zorn war wie glühendes Magma, angestaut seit zwanzig Jahren. Die Angst des Kindes. Der Schmerz des jungen Mädchens. Die Empörung der Frau. Kamala erzitterte, als diese Kräfte sie durchströmten, aber sie waren stärker als alles, was sie jemals beschworen hatte, und sie konnte sie nicht beherrschen. Sie war geblendet, in ihrem Blickfeld war alles rot – rot wie Blut –, und als das Athra sich durch ihre Adern brannte, glaubte sie den Schlag des fernen Herzens zu spüren, das es antrieb. Es hatte zu kämpfen, denn das Leben sprudelte aus ihrem Konjunkten heraus wie das Blut aus einer Wunde. Kein Mensch konnte so viel Athra verlieren, ohne Wirkung zu zeigen. War der Konjunkt dem Tode nahe? Würde die Translatio hier auf dieser schmutzigen Straße, inmitten von Feinden über sie hereinbrechen? Zum ersten Mal, seit sie Aethanus’ Haus verlassen hatte, bekam sie es mit der Angst zu tun. Wann war es zu viel? Was wurde aus dem Leben eines Menschen, wenn man es in solchen Mengen verschwendete?
Es schien, als wollte das Feuer nicht aufhören zu brennen, doch irgendwann beruhigten sich die tosenden Flammen der Macht. Der Knoten in ihrer Brust löste sich, und sie konnte wieder atmen. Sie zwinkerte sich das Rot aus den Augen und bemühte sich, ihre Umgebung zu erkennen. Noch war sie nicht sicher, ob die Macht tatsächlich etwas bewirkt hatte oder nur das magische Gegenstück eines empörten Aufschreis gewesen war.
Auf der Straße war es still. Die Männer, die um sie herumgestanden hatten, waren nicht mehr da. Sie zwinkerte, um deutlicher sehen zu können.
Auf dem Boden lagen … Gegenstände. Von Männergröße. Sie musste sie alle mit ihrer Macht niedergestreckt haben.
Sie hörte ein Keuchen hinter sich und fuhr herum. Da stand ein Junge und starrte sie an. Seine Augen waren vor Angst – oder vor Entsetzen? – weit aufgerissen, und als sie ihn ansah, machte er kehrt und stolperte davon.
Was …?
Sie wandte sich wieder zurück, und endlich wurde ihr Blick wieder scharf.
Sie konnte sehen.
Körper. Zerschmetterte Körper. Einzelne Körperteile. Körper wie leblose Puppen, zerschlagen von der Hand eines Riesen. Ein Mann war im Schrei erstarrt; sein Gesicht war schwarz verkohlt, wie von heißer Asche versengt, ein bizarrer Anblick. Kopf und Glieder eines anderen waren aufs Unnatürlichste verrenkt.
Du darfst dich niemals von der Macht beherrschen lassen , hatte Aethanus gewarnt.
Sie stolperte davon. Übelkeit würgte sie mit betäubender Kraft, sie wollte nur weg von diesem Gemetzel, wohin, war ihr gleichgültig, solange sie diese Schreckensbilder nicht mehr zu sehen brauchte. Das Feuer in ihren Adern war erloschen, eisiges Grauen hatte sich breitgemacht. Was habe ich getan! Sie konnte kaum noch klar denken. Nur weg von diesen Leichen , das war alles, was zählte. Irgendwohin, wo die Mauern nicht mit Blut bespritzt waren und
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