Die Seelenjägerin
auf der anderen Seite des Berges, wo sie von vorüberziehenden Reisenden nicht zu sehen waren. Natürlich waren Wachen aufgestellt, aber sie waren für einen flüchtigen Beobachter nicht zu erkennen, und Kamala nahm an, dass sie sich auch nicht zeigen würden, solange kein Dieb oder Landstreicher ihre Wachsamkeit auf die Probe stellte.
Sie stand auf der Kuppe des Berges und blickte auf die Lichter der Stadt hinab. Eine Karawane hatte ihre Fuhrwerke auf der windgeschützten Seite des Hanges abgestellt, und davor brannten noch mehrere Fackeln, wohl um Diebe abzuschrecken. Aus einer dunklen Ecke des Lagers drang leiser Gesang, zu weit entfernt, um unterscheiden zu können, ob der Sänger männlich oder weiblich war. Die Kaufleute hatten im Wirtshaus offenbar viel länger gefeiert als ihre Diener, und bis auf die Wachen und ein paar Nachtschwärmer schienen alle fest zu schlafen.
Kamala wartete schweigend und genoss die Stille und die Dunkelheit. Nach wenigen Minuten näherte sich eine Gestalt. Das schwarze Gesicht wurde von der Dunkelheit verschluckt, aber die goldenen Ringe in den Ohren und die kostbaren Gewänder leuchteten wie Feuer im Mondlicht.
Der Mann ging an ihr vorbei, sah sie und blieb stehen. Seine Seidenrobe roch nach Bierdunst und dem Parfüm einer Hure.
»Du hast eine gute Stimme«, sagte Kamala.
Er legte den Kopf schief. »Du bist der, der sich nach Sankara erkundigt hat.«
»Du hast scharfe Ohren.«
»Und du hast eine seltsame Aussprache, sie vermischt die Klänge des Westlichen Deltas mit eher nordischen Tönen. Kaum zu verwechseln.«
Ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen. »Du hast sehr scharfe Ohren.«
»In meinem Geschäft wird eine gute Beobachtungsgabe belohnt.«
»Und du bist viel auf Reisen.«
Er neigte den Kopf. »Auch das ist richtig.«
»Ich finde deine Geschichten über Sankara unerhört spannend. Bist du oft in der Stadt?«
Er schwieg einen Augenblick. Seine schwarzen Augen musterten sie, suchten … wonach? Sie war mit seinen Vorstellungen zu wenig vertraut, um ihm mit Magie vorgaukeln zu können, er hätte es gefunden.
Endlich sagte er: »Ich habe gelegentlich in Geschäften dort zu tun. Warum fragst du?«
»Du hast mich neugierig gemacht. Ich würde mir die Stadt gern selbst einmal ansehen.«
»Tatsächlich?« Jetzt war er es, der spöttisch lächelte. »Darauf wäre ich im Leben nicht gekommen.«
Sie machte sich behutsam an den Fäden seines Bewusstseins zu schaffen, kürzte da, wo sie Misstrauen gegenüber Fremden spürte, und stärkte Verbindungen, die auf neue Erfahrungen und Herausforderungen ansprachen. Erregt bis in die Fingerspitzen, spürte sie, wie ihr Zauber seine Wirkung tat und seine Seele nach ihren Anweisungen umgestaltet wurde. Aethanus hatte ihr das Verfahren zwar erklärt, aber sie hatte bisher nie Gelegenheit gehabt, es praktisch anzuwenden. Man übte solche Künste nicht am eigenen Lehrer.
»Ich möchte die Welt sehen«, sagte sie. »Und es wäre mir lieb, dich als Führer zu haben.«
Ohne ihren magischen Einfluss hätte er an ihrer Vorwitzigkeit vielleicht Anstoß genommen, doch nun kniff er nur nachdenklich die Augen zusammen, als überlege er, ob der junge Mann, der da vor ihm stand, wohl irgendwie zu gebrauchen wäre. »Du musst etwas zu bieten haben«, sagte er endlich, »sonst würdest du nicht so mit mir sprechen. Und wenn ich mir deine Kleidung ansehe, ist es vermutlich kein Geld.«
»Ein neuer Beweis für deinen Scharfblick.«
»Was ist es dann?«
Sie hob die Hand und ließ auf ihrer Handfläche kleine Lichter tanzen. Es war ein Kunststück für Kinder, aber es erfüllte seinen Zweck.
Er sah sie scharf an. »Du bist ein Hexer?«
Sie nickte stumm. Und hielt den Atem an. Sie hatte keine Ahnung, was er jetzt dachte, und deshalb war jeder Versuch, ihn zu beeinflussen, riskant. Die Fäden eines Bewusstseins zu verändern, ohne zu wissen, womit man es zu tun hatte, musste heillose Verwirrung stiften. Wenn man mit seinen Annahmen allzu weit danebenlag, konnte man den Verstand eines Menschen unwiderruflich zerstören.
Sie begnügte sich damit, mit einem Hauch von Macht ihre Tarnung zu verstärken. Auf keinen Fall durfte er ihr wahres Geschlecht erraten. Händler nahmen kaum jemals Frauen mit auf ihre Reisen, es sei denn für sehr private Bedürfnisse, und Kamala hatte nicht die Absicht, sich noch einmal für solche Zwecke gebrauchen zu lassen.
Endlich sagte er: »Was bietest du mir denn nun? Nur damit wir uns nicht
Weitere Kostenlose Bücher