Die Tallinn-Verschwörung - Thriller
Malteserordens nur ihrem Onkel zu Gefallen.
Mit einem Mal erschien ihr der Verlust ihrer Individualität als ein zu großer Preis für freie Kost und Logis. Gehalt bekam sie keines, da sie zur Familie des Kardinals zählte, und die finanziellen Zuwendungen in Form von Taschengeld und Geschenken, die sie von ihren Eltern, einigen Tanten und anderen Verwandten erhielt, reichten gerade aus, um das Studium zu finanzieren und sich außer Haus vernünftig kleiden zu können. In der Uni lief sie selbstverständlich nicht in Ordenstracht herum, sondern versuchte sich so wenig wie möglich von anderen Studentinnen zu unterscheiden.
Die beiden Tassen in der Hand erinnerten sie daran, dass sie sie spülen und wieder zurückstellen musste. Sie ging in die Küche und trat an das Becken, ohne sich um Noras Räuspern zu kümmern. Während sie die Tassen säuberte, fiel ein Sonnenstrahl durch das Fenster auf das goldene Kreuz und ließ es hell aufleuchten. Graziella drehte sie erstaunt im Licht, so dass sich das Symbol mehrfach veränderte. Je nachdem, wie sie die Tasse hielt, wirkte es wie ein Hammer, und sie erinnerte sich an die Worte des Weihbischofs.
Die Söhne des Hammers würden ein Fanal setzen, das die ganze Welt erschüttern sollte.
ACHT
K aum hatten Winter und sein Sekretär das Haus verlassen, da schlüpfte Graziella in das Zimmer ihres Großonkels und stellte ihm eine Tasse Cappuccino hin. »Gottes Segen, Onkel. Darf ich dir auch ein Stück Kuchen bringen?«
»Ja, aber keinen mit Früchten!«
Der Kardinal war hier sehr eigen. Nora hatte Graziella schon bei ihrem Einzug gewarnt, dass der alte Herr ihr einen Kuchen, der ihm missfiel, hinterher werfen könne. Bisher war dies jedoch noch nicht geschehen, und auch diesmal leckte sich der Kardinal die Lippen, als er die appetitliche Schokoladenschnitte sah, die seine Nichte ihm vorlegte. Er ließ sich von ihr noch die kleine Silbergabel reichen und begann zu essen.
Graziella setzte sich ihm gegenüber und sah ihn an. »Ein seltsamer Gast, dieser tedesco , findest du nicht auch, Onkel? «
Der Kardinal brummte nur und steckte den nächsten Bissen Kuchen in den Mund. Erst als er diesen geschluckt hatte, bequemte er sich zu einer Antwort. »Weihbischof Winter ist einer der eifrigsten Kämpfer unserer heiligen Kirche und ganz gewiss nicht seltsam, mein Kind.«
»Was wollte er denn von dir?«, bohrte Graziella weiter. Bisher war es ihr meist gelungen, den alten Herrn zum Reden zu bewegen, doch diesmal blieb der alte Mann verschlossen wie eine Auster.
»Nichts, was ein kleines Mädchen wie dich interessieren könnte. Und jetzt reiche mir mein Brevier. Ich muss für unsere Kirche beten.«
Graziella schien nichts mehr erreichen zu können. Enttäuscht verließ sie das Zimmer. Das Gespräch, welches sie
aus einer Laune heraus belauscht hatte, ging ihr jedoch nicht mehr aus dem Kopf. Zwar hatte es recht verworren gewirkt, aber auch so, als hüteten ihr Onkel und der tedesco ein gefährliches Geheimnis. Graziella wusste, dass es in der katholischen Kirche und speziell im Vatikan unterschiedlichste Meinungen und Vorstellungen gab. Auch rangen eine Reihe von Gruppierungen, Orden und Seilschaften miteinander um Macht und Einfluss. Einige davon standen sich feindselig gegenüber und lauerten nur darauf, einander auszuschalten.
Zum Beispiel zählte Opus Dei zu den Organisationen, denen es mit am besten gelungen war, sich an einflussreicher Stelle zu etablieren. Graziella war aufgefallen, dass ihr Großonkel nicht viel von dieser Gruppe hielt, obwohl er konservativ war bis ins Mark. Sie konnte sich an etliche Gespräche erinnern, in denen er sich eher verächtlich über diese und ähnliche Vereinigungen ausgelassen hatte. Vielleicht war das der Grund, warum er nur einen repräsentativen Posten im vatikanischen Gefüge bekleidete und keine Stellung, die ihm besonderen Einfluss verlieh. Aber nun schien es, als gehöre er schon seit langer Zeit zu einer Gemeinschaft, der sich auch Kardinal Rocchigiani angeschlossen hatte.
Graziella erinnerte sich gern an diesen Freund ihres Großonkels, der vor drei Monaten durch einen Bergunfall ums Leben gekommen war. Trotz seines hohen Alters war Rocchigiani ein begeisterter Bergsteiger gewesen und bei seiner letzten Tour in der Marmolatagruppe abgestürzt. Man hatte seinen Leichnam erst drei Tage später aufgefunden und ihn mit großem Pomp nach Rom überführt. Jetzt ruhten seine Gebeine in der Basilika San Paolo fuori le mura, die dem heiligen
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