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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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auf diesen Zeichnungen hätte man sich selbst nicht erkannt.
    »Ich denke, du hast deine Kumpel überzeugt, beizutreten«, sagte der Mann zu seiner Rechten, den er kurz zuvor angerempelt hatte. Paddy drehte sich um. Es war ein junger Mann, schlank und glatt rasiert, mit ernstem Gesichtsausdruck. Er trug die grobe Kluft eines Dockarbeiters. »Bist du der Anführer?«
    Paddy lachte. »Der Anführer? Das ist keiner hier. Das ist ein Teil des Problems. Die Arbeiterschaft sollte organisiert sein. Hier in Wapping ist sie’s nicht.«
    »Ihr solltet euch organisieren. Ich hab zufällig alles mit angehört. Du bist ein guter Redner. Überzeugend. Offensichtlich glaubst du an die Gewerkschaft.«
    »Ja, das stimmt. Bist du aus der Gegend?
    »Ursprünglich aus dem Süden. Aus Bristol.«
    »Na, wenn du in Wapping arbeiten würdest, würdest du wissen, was die Gewerkschaft für uns bedeutet. Sie ist unsere einzige Chance, an ordentliche Löhne und gerechte Behandlung zu kommen. Schau dir den alten Mann dort an«, sagte er und deutete in die Ecke. »Er hat sein ganzes Leben lang Schiffe entladen, und dann ist ihm eine Kiste auf den Kopf gefallen. Hat ihm die Schädeldecke eingehauen. Seitdem ist er verrückt. Der Vorarbeiter hat ihn rausgeschmissen, als wär er ein Stück Dreck. Siehst du den am Kamin? Hat sich den Rücken an der Morocco Wharf ruiniert und nicht mehr arbeiten können. Hat fünf Kinder. Er hat keinen Penny Rente gekriegt. Die Kinder waren so hungrig, daß seine Frau schließlich ins Arbeitshaus mit ihnen gezogen ist …« Von seinen Gefühlen übermannt, schwieg Paddy einen Moment, aber seine Augen glühten vor Zorn. »Sie lassen uns schwer schuften. Zehn bis zwölf Stunden am Tag, bei jedem Wetter. Kein Tier würden sie so schinden, die Menschen aber schon. Und was bleibt uns am Ende? Rein gar nichts, zum Teufel.«
    »Und die anderen? Denken sie wie du? Haben sie den Mumm, den Kampf aufzunehmen?«
    Paddy richtete sich drohend auf. »Sie haben den Mumm, Kumpel, eine ganze Menge davon. Sie sind nur lange so geknechtet worden, daß es eine Weile dauern könnte, bis sie ihn wiederfinden. Wenn du diese Männer sehen könntest, was sie aushalten …« Seine Stimme brach ab. »Ja, sie haben den Mumm«, fügte er leise hinzu.
    »Und …?«
    »Du stellst aber eine Menge Fragen«, unterbrach er ihn, plötzlich mißtrauisch geworden. Die Dockbesitzer zahlten gutes Geld für Informationen über die Gewerkschaft. »Wie heißt du eigentlich?«
    »Tillet. Benjamin Tillet«, antwortete der Mann und streckte die Hand aus. »Und du?«
    Paddy sah ihn mit großen Augen an. »O Gott«, stieß er hervor. »Doch nicht der Ben Tillet?«
    »Wahrscheinlich schon.«
    »Du meinst, ich hab die ganze Zeit hier gestanden und dir was vorgepredigt? Tut mir leid, Kumpel.«
    Tillet lachte herzlich. »Leid? Warum denn? Die Gewerkschaft ist mein Lieblingsthema. Es gefällt mir, dir zuzuhören. Du hast eine Menge zu sagen, und das machst du gut. Ich weiß noch immer nicht, wie du heißt.«
    »Finnegan. Paddy Finnegan.«
    »Hör zu, Paddy«, sagte Tillet. »Ich muß diese Versammlung eröffnen, aber was du gesagt hast, war richtig, wir sind hier unten nicht organisiert. Wir brauchen lokale Führer. Männer, die ihre Kollegen anfeuern können, die ihnen Mut machen, wenn es schwierig wird. Was meinst du?«
    »Wer? Ich?«
    »Ja.«
    »Ich … ich weiß nicht. Ich hab nie irgendwen angeführt. Ich wüßte gar nicht, wie man das macht.«
    »Doch, du könntest das. Bestimmt«, erwiderte Tillet. Er trank sein Glas aus und stellte es auf die Theke zurück. »Vorher, als deine Kollegen unsicher waren, hast du sie gebeten, darüber nachzudenken. Jetzt bitte ich dich darum. Einverstanden?«
    »Ja«, antwortete Paddy verblüfft.
    »Gut. Wir sehen uns später.« Er ging durch die Menge davon.
    Paddy war platt. Er fühlte sich zwar geschmeichelt und geehrt, daß Tillet ihn bat, die Männer anzuführen, aber das war eines, die Sache wirklich in die Hand zu nehmen, etwas ganz anderes. Konnte er das denn? Wollte er es überhaupt?
    »Kameraden …« Es war Tillet. Er redete sich warm, indem er allen von dem zurückbehaltenen Bonus bei Oliver’s berichtete, dann ging er zu der drohenden Lohnkürzung im Teegroßhandelshaus an der Cutler Street über. Eindringlich listete er die Armut und das Elend der Dockarbeiter auf und drosch dann auf diejenigen ein, die dafür verantwortlich waren. Es war mucksmäuschenstill. Die Männer hielten ihre Gläser in der Hand oder

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