Isländisch Roulette: Thriller (German Edition)
1
Reykjavík, Donnerstag, 28. Mai 1987
Ich stecke tief in der Scheiße, denkt Steinn Þorri Steinþórsson, als er erstarrt mit dem Telefonhörer in der Hand zu Hause im Esszimmer seiner Eltern sitzt. Gerade eben hat er mit Steinunn Anna gesprochen, der Studienberaterin am Wirtschaftsgymnasium. Sie hat ihm die schlechteste Nachricht seines Lebens überbracht: Er ist durchgefallen und wird sein Abitur nicht bestehen. Wie kann das sein? Steinn Þorri weiß selbst, dass er nicht gerade zu den besten Schülern zählt, schließlich ist er Legastheniker. Aber wenn er vor zwei Jahren durch die Aufnahmeprüfung gekommen ist, sollte er doch auch das Abi schaffen. Er ist zu nachlässig gewesen. »Das ist das beschissenste Jahr in meinem Leben. So eine verdammte Schande«, brummt er. Als ob es nicht schon genug der Blamage gewesen wäre, im letzten Jahr die Wahl zum Vorsitzenden der Schülervertretung gegen diesen Arsch von Angeber Reynir Sveinn Reynisson zu verlieren. Wie zum Teufel soll er nun seinen Leuten gegenübertreten? Tief in Gedanken geht er in sein Zimmer, schließt die Tür,löscht das Licht, zieht die Gardinen zu und legt sich ins Bett. Es ist alles aus. Entweder bringt er sich um oder er setzt sich ins Ausland ab. Er schließt die Augen und sieht schwarz. Er kann jetzt nicht mit seinen Eltern sprechen. Er blickt auf die Uhr. Es ist zehn, noch genug Zeit, um zur Bank zu gehen, alles Geld abzuheben und ein Flugticket zu buchen.
Er reißt eine Seite aus dem Notizbuch auf dem Schreibtisch und beginnt zu schreiben:
Ich habe versagt, sory. Ich bin wegg, aber ich verspreche,
ir werdet eines Tages stolz auf mich sein könen.
Euer Son
Steinn Þorri
Er will nicht eher zurückkommen, bis dass er seinen Leuten wieder unter die Augen treten kann. Er geht in die Abstellkammer, kramt die schwarze Reisetasche hervor und stopft das Allernötigste hinein. Dann sucht er Sparbuch und Reisepass heraus. Jetzt muss er noch ein Flugticket buchen und Reiseschecks in der Bank besorgen. Er legt den Abschiedsbrief auf den Küchentisch, nimmt sich eine Dose Diet Pepsi aus dem Kühlschrank und stiefelt hinaus.
2
Reykjavík, Mittwoch, 24. März 2010
Hörður Sveinsson, Redakteur des
Dagblaðið
, sitzt im morgendlichen Meeting der Zeitungsredaktion. Von der Redaktionsrunde wird er »der Quadratmeter« genannt, wenn er es nicht hört, denn er ist klein und gedrungen. Weder ist er ein ansehnlicher Mann noch sonderlich gepflegt. Das dunkle, krause Haar glänzt fettig und sieht aus, als wäre es zum letzten Mal zu Weihnachten gewaschen worden. Die Schultern seines schwarzen Hemdes sind von Schuppen übersät. Seine Augen sind blau und tief, die Nase ist klein, und seine Mundwinkel verziehen sich nach unten, wenn er lächelt. Die Zähne stehen schief und sind gelb vom jahrzehntelangen Rauchen. Die Rasierfrequenz wechselt zwischen drei Tagen und drei Wochen. Ein Hals wurde in Hörðurs Fall vergessen, so dass sein Kopf direkt auf dem stämmigen Rumpf sitzt. Hörður ist breit, aber obwohl er sogar fett ist, steht es ihm irgendwie. Seine Beine sind mächtig wie Hafenpoller und lassen ihn kleiner wirken, als er in Wirklichkeit ist. Auf der hellblauen Jeans prangen zwei frischeKaffeeflecken, die weißen Puma-Turnschuhe sind seit langem schon grau vor Dreck.
In dem Meeting werden die Themen für die Wochenendausgabe besprochen, die Sonnabend erscheint.
»Wir müssen an diesen verdammten Krebs-Tag am Samstag denken«, erinnert Hörður. »Wie ist das noch mal? Ist dieser Schnauzer-März dann nicht zu Ende?«
»Ja, genau! Das ist er«, ist von zwei Journalistinnen zu hören.
»Ich kenne einen, der Hodenkrebs hatte und nichts lieber tut, als davon zu erzählen. Das ist ein alter Schulfreund von mir, Gunnsi Finnbjörnsson von der Polizei«, sagt Hörður und grinst selbstzufrieden. »Drífa! Ruf ihn an und bring ihn dazu, ein rührseliges Interview zu geben. So ein Ich-bin-fast-gestorben-hab-aber-überlebt-Herzschmerz-Interview«, sagt er zu einer etwa fünfzigjährigen Frau, die mit einer Feile dasitzt und sich die Nägel macht.
Drífa hat dreißig Jahre Erfahrung als Journalistin und kann ein Lied davon singen – in jeder Hinsicht. Sie ist trockene Alkoholikerin, und heute ist sie diejenige, der Hörður am meisten vertraut, wenn es um dramatische Interviews oder schwierige Porträts geht.
»Ja, Hörður, kein Problem. Ist das nicht der Chef von der Kriminaldirektion?« Drífa wirkt gelassen.
»Ganz genau.
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