Die Tochter der Hexe
noch ertragen, die Schlafkammer zu betreten und sich an das Bett der abgemagerten, weißhaarigen Frau zu setzen, die einmalso selbstbewusst, lebenslustig und schön gewesen war. Doch ihre Gebete wurden nicht erhört, und mit Lenes Tod wurde für Marthe-Marie das Haus ihrer Kindheit zur Fremde.
Jetzt erst senkte sich die Erkenntnis, dass sie eine andere war, wie ein Albdruck auf sie. Sie konnte ihrem Vater nicht weiter die Tochter, ihren Geschwistern nicht weiter die Schwester sein.
Marthe-Maries Blick fiel auf das kleine Ölbild über der Kommode. Sie nahm es in die Hand und betrachtete das Porträt der dunkelhaarigen Frau mit dem blassen, fein geschnittenen Gesicht und den dunklen Augen. Ihr Großvater, der Marienmaler Hieronymus Stadellmen, hatte dieses Bildnis seiner Ehefrau Anna einst gemalt.
Raimund trat hinter sie. «Wie ähnlich du deiner Großmutter siehst. Es ist, als ob du in einen Spiegel blicken würdest. Catharina hatte das Bild immer bei sich gehabt, wie einen Talisman, sagt Lene.» Er räusperte sich. «Aber es hat ihr kein Glück gebracht.»
«Es ist das einzige Andenken an meine Mutter, das ich besitze.»
Zum ersten Mal sprach sie in Raimunds Gegenwart von Catharina als ihrer Mutter. Sie hängte das Bild zurück.
Es war unter seltsamen Umständen in ihre Hände gelangt: An einem heißen Frühlingstag, gut ein Jahr nach der Hinrichtung von Catharina Stadellmenin, war ein Bote erschienen, der das Päckchen nur ihr selbst, Marthe-Marie Mangoltin, aushändigen wollte und der über den Absender nichts sagen konnte oder durfte. Sie hatte das Bild damals Lene gezeigt, die ihr nach einem ersten Augenblick ungläubiger Überraschung zunächst ruhig und gefasst erklärt hatte, dass es Catharinas Mutter darstelle und wie wichtig Catharina dieses Bildnis einst gewesen sei. Dann war sie, von einem Moment auf den nächsten, weinend zusammengebrochen. Um sie zu schonen, hatte Marthe-Marie ihr das beigelegte anonyme Schreiben nie gezeigt: «Ein Andenken an Catharina Stadellmenin. Von einem Freiburger Bürger, der die Stadellmenin sehr gut kannte.»
Inzwischen war sie sich beinahe sicher, dass bei diesem unbekannten Freiburger Bürger auch die anderen persönlichen Dinge ihrer Mutter zu finden wären – ihre Bücher und Briefe, die kleine geschnitzte Flöte und der kunstvoll verzierte Wasserschlauch, den Lenes Bruder Christoph ihr einst als Liebesbeweis geschenkt hatte.
Raimund Mangolt verschloss die Kleiderkiste. Regungslos stand er da, nur seine Schultern bebten. Marthe-Marie trat neben ihn, nahm ihn in die Arme und weinte mit ihm um den Menschen, den niemand in diesem Leben ersetzen konnte. So standen sie, bis das Hausmädchen an die Tür klopfte und verkündete, das Mittagsmahl stünde bereit.
Raimund wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. «Lass die Vergangenheit ruhen, Marthe-Marie. Der Gedanke, dass du nach Freiburg willst, macht mir Angst. Das ist kein guter Ort für dich.»
»Mach dir keine Sorgen, Vater. Niemand dort weiß, wessen Tochter ich bin.»
Vor der Entschlossenheit seiner Ziehtochter hatte Raimund Mangolt schließlich die Waffen strecken müssen. So reiste sie nun mit seinem Segen und seiner Unterstützung. Zum Schutz hatte er ihr seinen ehemaligen Quartiermeister mitgegeben, einen verlässlichen, schweigsamen Mann, dazu ein Bündel Papiere, die ihnen das Passieren der Grenzposten und zahlreichen Mautstellen am Hochrhein und im Oberrheintal erleichtern würden. Zum Abschied hatte sie ihm versprechen müssen, nach Innsbruck zu kommen, falls es ihr schlecht erginge.
Sie näherten sich der alten Zähringerstadt Waldshut, und es regnete bereits den zweiten Tag Bindfäden. Marthe-Marie verkroch sich tiefer unter das Verdeck, wo Agnes in ihrer Wiege ruhig schlief. Dem Quartiermeister vorne auf dem Kutschbock troff das Regenwasser von der Hutkrempe. Regnet’s am Georgitag, währtnoch lang des Segens Plag, dachte Marthe-Marie und betrachtete missmutig den bleigrauen Himmel.
«Sollen wir uns nicht irgendwo unterstellen? Ihr seid ja völlig durchnässt.»
«Unsinn, Mädchen. Hab schon ganz anderes Wetter erlebt, wenn ich unterwegs war. Außerdem sind wir bald in Waldshut, dort kenne ich einen formidablen Gasthof.»
Er klatschte dem Rappen, der in langsamen Schritt gefallen war, die Peitsche über die Kruppe. Marthe-Marie schloss die Augen. Das sanfte Schaukeln des Gotschiwagens, eines leicht gebauten, mit Lederriemen gefederten Einspänners, machte sie schläfrig. Sie dachte daran,
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