Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
Marburg schreit geradezu danach, hinter jedem Stein ›Verwunschenes‹ zu vermuten. Das lässt sich mit den Kräften des Verstands nicht erfassen. Allerdings gibt es hier so viele Treppen, dass es mich nicht wundern sollte, wenn man eine davon als verwunschen annimmt. Aberglaube unterscheidet nicht zwischen Traum und Wirklichkeit.«
»So wie bei diesem Wolf, von dem man erzählt?«
»Ein Wolf?« Verdutzt blickte Sophie zwischen den Brüdern hin und her.
»Ein Wolf, ein Untier mit glühenden Augen«, erklärte Jakob nüchtern. »Ein Holzsammler will ihn gesehen haben. Am nächsten Tag hieß es bereits, er habe ein Dutzend Lämmer gerissen, inzwischen werden ihm das Verschwinden eines Kindes, der Tod einer Milchkuh, eines Ackergauls und der Diebstahl zweier Apfelbäumchen aus dem Pfarrgarten zur Last gelegt. Was die Bestie als solche wiederum durchaus bemerkenswert erscheinen lässt.«
»Du ziehst die Sache ins Lächerliche«, tadelte Wilhelm, schaffte es aber nicht, ein Grinsen zu unterdrücken. »Ich glaube, dass da wirklich ein Wolf im Wald unterwegs ist. Irgendwo müssen die Geschichten ja herkommen.«
Sophie wollte etwas einwerfen, stockte jedoch, als sie Anna rufen hörte. Bei ihren gemeinsamen Spaziergängen ließ sich Sophie meist ein wenig zurückfallen, um Anna und ihrem Friedrich Zeit für sich zu lassen, achtete aber darauf, dass sie nicht zu viel Abstand zwischen sich und das junge Paar brachte. Heute hatte sie sie im Gespräch mit dem Grimms ganz vergessen.
»Anna?« Sie löste sich von Wilhelm und raffte ihre Röcke, um zurückzueilen.
Die Freundin und ihr Verlobter waren an der letzten Biegung stehen geblieben und schienen etwas zu suchen. Während Friedrich mit einem bemoosten Stock im Uferdickicht herumstocherte, lief Anna ziellos hin und her, raufte sich die Haare und stieß kleine Verzweiflungslaute aus.
»Was ist geschehen?« Sophies Stimme war atemlos, als sie die Freundin erreichte, die sogleich die Hände sinken ließ und hilflos den Kopf schüttelte. Die schweren Schritte hinter ihr auf dem Weg deuteten Sophie, dass die Grimms gefolgt waren.
»Papillon ist weggelaufen!« Anna sah aus, als bräche sie jeden Augenblick in Tränen aus. »Friedrich hat ihn kurz von der Leine gelassen, weil er ständig an ihm hochsprang, und jetzt kommt er nicht mehr zurück.«
»Weit kann er nicht sein. Komm, wir helfen dir suchen.« Sophie schenkte Anna ein aufmunterndes Lächeln, auch wenn ihr keineswegs danach war. Der kleine Köter war eine Landplage, und sie bewunderte insgeheim Friedrichs Langmut, dass er das Vieh nicht schon längst in der Lahn ertränkt hatte. Die Aussicht, ihre wertvolle Zeit mit Wilhelm zu opfern, um durch das Uferdickicht zu kriechen und dieses verzogene Vieh einzufangen, erfüllte sie nicht gerade mit Begeisterung. Aber Anna hing an dem Tierchen und würde es ihr ewig übel nehmen, wenn sie nicht mithalf.
»Am besten teilen wir uns auf«, schlug Friedrich vor, der die Vergeblichkeit seiner Bemühungen wohl einsah und den Stock weggeworfen hatte. »Anna und ich, wir gehen den Weg zurück und sehen nach, ob Papillon dort irgendwo ist. Ihr arbeitet euch von hier aus weiter flussaufwärts vor. Wahrscheinlich hat er nur wieder einer Bisamratte nachgestellt«, wandte er sich tröstend an Anna.
»Hunde sind so, wenn sie der Jagdeifer überfällt«, pflichtete Jakob dem jungen Mann überraschend ernst bei. »Wir sollten uns beeilen, ehe er sich am Ende in einem Bau festgräbt.«
Annas Gesicht wurde für einen Moment noch bleicher. Ihre Hand tastete nach Friedrichs, und gemeinsam eilten sie den Weg zurück, den sie gekommen waren.
»Papillon!« Jakob stieß verächtlich Luft durch die Nasenflügel aus. »Warum nimmt man einen französischen Namen, wenn es einen schöneren deutschen gibt?«
»Schmetterling klingt auch nur in deinen Ohren hübscher als Papillon«, konterte Wilhelm und sah sich um. »Wo fangen wir am besten an?«
»Bei den Bisamratten.« Sophie seufzte. »Nehmt einen Stock, um die Pflanzen niederzudrücken. Der Köter kann überall sein.«
Die beiden Brüder bewaffneten sich mit je einem Stück Bruchholz und begannen mit wenig Enthusiasmus, den Uferbereich zu durchsuchen und dabei immer wieder nach dem verschwundenen Hund zu rufen.
»Du schätzt das gute Tier nicht sonderlich«, stellte Wilhelm nach einer Weile fest und schlug Brennnesselsträucher zur Seite, die sich im Schatten einer Erle bis zum Ufer ausgebreitete hatten.
»Wenn du das›gute Tier‹ besser
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