0399 - Totentanz im Urnengrab
Die Gasse war eng, fast zu eng für eine Flucht, und die Nische zwischen den beiden halb zerfallenen und manchmal bewohnten Abbruchhäusern war noch schmaler.
Der Junge kam sich vor wie in einer Falle, trotzdem geriet er nicht in Panik. Er legte die Beute nur vorsichtig zu Boden, duckte sich noch mehr und schob sich, auf Händen und Füßen kriechend, dorthin, wo sich schwach und grau das Ende des Durchgangs abzeichnete.
Er fluchte innerlich über den Unrat, der den Boden bedeckte und über den er hinwegkriechen mußte. Mit der rechten Seite schabte er an der rauhen Hauswand entlang und lauschte seinem eigenen Atem und den schlurfenden Schritten.
Manuel war es gewohnt, sich zu verkriechen. Er zählte sich nicht ohne Grund zu den Ratten von Rio, die erst bei Dunkelheit ihre Schlupflöcher verließen und so schnell zuschlugen, daß sie kaum gesehen wurden. Die Beute am Nachmittag war ein Zufall gewesen, und die fünf Dollar, die er gefunden hatte, reichten aus, um zwei Nächte pausieren zu können.
Der aufkommende Wind fuhr wie ein langer Arm in die Gasse und brachte einen Fäkaliengeruch mit. Die Nase des Kleinen hatte sich schon daran gewöhnt, weil dieser Gestank permanent vorhanden war.
Der vorgeschobene Kopf des Jungen schloß mit der Mündung der schmalen Einfahrt in die Gasse bündig ab. Er brauchte ihn nur mehr nach links zu drehen, um schauen zu können, wer da kam.
Es mußten mehrere Personen sein. Manuel – immer auf der Jagd und im Dschungel der Großstadt aufs Überleben getrimmt –, hatte dafür ein sehr feines Gehör entwickelt.
Es waren nicht die Soldaten oder Polizisten, die sich auf den Weg gemacht hatten und eine Razzia durchführten. Diese gingen anders.
Selbstbewußter, forscher. Wer da herschlich, schien krank zu sein oder Mühe zu haben, seine Beine überhaupt hochnehmen zu können.
Manuel schaute nach links. Er hielt dabei den Atem an. Durch nichts wollte er sich verraten.
Ein kamerabewaffneter Tourist auf Motivsuche hätte sicherlich seine helle Freude an dem Bild gehabt, das sich den Blicken des Jungen bot, denn Manuel befand sich oberhalb der eigentlichen Stadt und auch des Strandes, so daß er über die abfallende Gasse hinweg noch weiter schauen konnte und er das Meer sah, das wie ein dunkler, mit hellen Wellenkämmen verzierter Teppich gegen den herrlichen Strand der Reichen und Verwöhnten anrollte.
Aber was interessierte einen Zehnjährigen aus den Slums von Rio schon die Romantik und Schönheit der Copacabana? Für ihn waren die drei Gestalten wichtig, die fast die gesamte Breite der Gasse einnahmen und mit schwankenden Bewegungen und schlurfenden Schritten seinem Versteck immer näherkamen.
Über Rio lag ein prächtiger nächtlicher Postkartenhimmel, gegen den auch die Reflexe der lichterfüllten City zuckten und sich dort mit dem Funkeln des südlichen Sternenhimmels vereinigten.
Deshalb war es auch in diesem sonst düsteren Viertel ohne Elektrizität hell genug, um die drei Gestalten genauer erkennen zu lassen.
Sie waren in alte Lumpen gekleidet.
Manuel hatte schon des öfteren Tote gesehen, auch welche, die in langen Totenhemden steckten. Und einer dieser Männer trug so ein Totenhemd, das dunkle Flecken und lange Risse aufwies. Aus dem Kragen schaute ein magerer Hals, über dessen dünne Haut dicke Fliegen krochen. Der Kopf besaß kein einziges Haar mehr, und das Gesicht wurde durch seinen starren Ausdruck zu einer Maske.
Die anderen beiden sahen ähnlich aus, wobei der ganz links Gehende kein Leichenhemd trug, sondern einen sackähnlichen Umhang, zu vergleichen mit einem bodenlangen, rotgrau gestreiften Poncho. Dieser Mann besaß noch sein Haar. Es war weiß geworden, und der Wind wehte die Strähnen in die Höhe.
Auch der dritte ging mit diesen schwankenden Bewegungen. Er überragte die beiden ersten. Seine Haut mußte einmal dunkel gewesen sein, jetzt war sie aschgrau und wirkte alt.
Manuel konnte zwar nicht lesen und schreiben, dafür besaß er etwas, das die Kinder der Zivilisation nicht hatten.
Instinkt!
Und dieser Instinkt sagte ihm, daß es verdammt gefährlich war, wenn er sich den dreien zeigte. Sie kamen ihm nicht geheuer vor. Es waren Menschen, und doch gehörten sie nicht dazu.
Manuel hatte zudem viel gesehen. Er, ein Kind der Nacht, wußte von den geheimnisvollen Voodoo- und Macumba-Riten, die in den Slums immer noch gepflegt wurden. Oft genug hatte er aus seinen Verstecken die Beschwörungen beobachtet, wenn die Zauberer den Toten befahlen, aus
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