Die Tote im Nebel - historischer Krimanlroman
Prolog
Die junge Frau taumelte . Keuchend rang sie nach Luft, während sie sich gehetzt umschaute. Die Schmerzen waren inzwischen fast unerträglich, pulsierten in ihrem Leib, dass sie am liebsten innegehalten und ihre Pein herausgeschrien hätte. Doch nicht, solange er hinter ihr her war.
Ihre Stiefel versanken in klebrigen Morast der Uferwiesen, während sie mühsam weiterhastete. Nebelbänke hingen schwer über der Aue des Flusses, waberten über dem Wasser wie höhnische Geister. Vielleicht konnte sie ihm entkommen, wenn sie es bis zum Ufer schaffte. Dort konnte sie sich zwischen den knorrigen Weiden verbergen, bis er seine Jagd aufgab.
Wieder durchzuckte sie der Schmerz, und sie fühlte im nächsten Moment, wie es warm ihre Beine hinablief. Sie strauchelte, spürte das nasse Gras unter ihren Händen, schmeckte Lehm zwischen den Lippen. Der Gestank ihrer eigenen Ausscheidungen ließ sie würgen. Herr im Himmel, hilf, flehte sie stumm, während sie sich hochstemmte und versuchte, nach dem Verfolger Ausschau zu halten.
Plötzlich stand er vor ihr, keine drei Schritte entfernt. Witternd, suchend drehte er sich um die eigene Achse, schien sie zunächst nicht zu bemerken, doch dann wandte er den Kopf. Sein Blick traf ihren.
Die junge Frau fuhr herum. Sie stolperte, fiel hin, rappelte sich wieder auf. Der Saum ihres Rocks war schwer von Nässe, schlug um ihre Knöchel, als sie vorantaumelte. Dort vorne war der Fluss, die Weiden, die dicht gedrängt wie dunkle Zauberwesen am Ufer lauerten. Das leise Gurgeln des Wassers mischte sich unter den dumpfen Nebel, der die Geräusche schluckte. Wenige Schritte noch, dann hätte sie die Uferwiese hinter sich gelassen und konnte sich verstecken. Sich verkriechen und darauf warten, dass diese rasenden Schmerzen nachließen. Wenn sie ihm nur entkam.
Abermals warf sie einen gehetzten Blick über die Schulter, aber hinter ihr war nur wabernder Dunst, keine Schritte im sumpfigen Untergrund, kein keuchender Atem, der näherkam. Vielleicht hatte er sie verloren, frohlockte sie.
Als sie die feuchte Rinde unter den Fingern spürte und sich um einen Stamm herumtastete, durchflutete sie eine Welle der Erleichterung. Wenn sie Glück hatte, fand sie eine Astgabel, die sie erklimmen konnte. Dort war sie sicher, sie musste sie nur …
Ihr Aufschrei erstickte noch in der Kehle, als der Schatten unvermittelt vor ihr aus dem Grau auftauchte. Etwas flog auf sie zu, dann explodierte der Schmerz und alles war Stille.
Marburg im November 1803
I
Ungeduldig wippte Sophie mit den Fersen auf und ab. »Nun lass mich auch einmal sehen«, quengelte sie und versuchte erneut, an ihrer Schwester vorbei einen Blick durch das Guckloch zu erhaschen.
»Sobald du an der Reihe bist.« Lisbeths Stimme erklang gedämpft von dem Holz, gegen das sie ihr Gesicht gedrückt hatte, um besser sehen zu können. »Sie sind noch nicht einmal in der Stube. Gedulde dich gefälligst.«
Sophie verdrehte die Augen und ließ sich wenig damenhaft auf einen Schemel fallen. Gedulde dich … wie sehr sie es hasste, wenn Lisbeth sie mit den Worten ihrer Mutter ermahnte. Dabei war es die große Schwester, die soeben höchst unschicklich ihr Gesicht an die Tür drückte, um einen Blick auf die Gäste zu erhaschen. Die große Schwester, die seit einem Monat verlobt war und weiß Gott anderes im Kopf haben sollte, als den Studenten nachzustieren.
Früher, als ihr Vater noch lebte, kam regelmäßig abends Besuch zum gelehrten Disput, der mitunter bis in die tiefe Nacht andauern konnte, wenn sich die Herren bei Tee und rotem Wein in Rage redeten. Sophie hätte viel dafür gegeben, an diesen Runden teilnehmen zu dürfen, aber so offen ihre Eltern in anderen Belangen waren, in diesem Punkt waren sie unnachgiebig. Zu jung und zu neugierig, sagte ihre Mutter, wenn Sophie sie bekniete, aber das sagte sie seit nunmehr drei Jahren. Seit dem Tod ihres Vaters kam man ohnehin noch selten hier zusammen. Meist traf man sich im Haus von Friedrich Carl von Savigny, eines jungen Professors für Rechtswissenschaften, um den sich inzwischen ein kleiner Kreis von Gelehrten, Dichtern und Studenten gesammelt hatte. Dass man sich heute hier einfand, war eine Ausnahme. Ihre Mutter hatte sich nicht wohlgefühlt, was Savigny und seine Freunde dazu veranlasst hatte, den Abend hier im Haus zu verbringen.
»Sie kommen herein«, flüsterte Lisbeth. Ihr Hinterteil wackelte, als sie aufgeregt hin- und hertrat. »Da ist der Savigny, er begrüßt gerade Mutter,
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