Die Träumerin von Ostende
Tochter?«
»Oder ihr Mann«, entgegnete Doris.
»Warum nicht ihr Liebhaber«, meinte Rita.
»Wie wär’s mit ihrer Schwester?«, schlug Mathias vor.
In Wirklichkeit erzählte jeder mit seiner Antwort von sich selbst. Claudia vermisste ihren Sohn, der in Berlin an der Universität lehrte, Nelly ihre mit einem Neuseeländer verheiratete Tochter; Doris sehnte sich nach ihrem Mann, einem Handelsvertreter, der ständig auf Reisen war; Rita wechselte ihre Liebhaber so häufig wie ihre Unterwäsche; und Mathias, der junge Pazifist und Kriegsdienstverweigerer, der lieber Zivildienst leistete und arbeitete, als seinen Militärdienst zu absolvieren, sehnte sich nach familiärer Geborgenheit.
Ulla sah ihre Kollegen an, als wären sie allesamt schwachsinnig.
»Aber nein, sie erwartet jemanden, der gestorben ist und dessen Tod sie nicht akzeptieren kann.«
»Das tut nichts zur Sache«, rief Claudia. »Es kann trotzdem ihr Sohn sein.«
»Ihre Tochter.«
»Ihr Mann.«
»Ihr Liebhaber.«
»Ihre Schwester.«
»Oder ihr Zwillingsbruder, der bei der Geburt gestorben ist«, schlug die lakonische, einsame Romy vor.
Wir sahen sie an und fragten uns, ob sie uns, wenn nicht das Geheimnis der Dame mit dem Blumenstrauß, so doch zumindest ihr eigenes Geheimnis anvertraute, den Grund für ihre anhaltende Traurigkeit.
Zur Abwechslung wandte ich mich an Egon Ammann.
»Und du, Egon, was glaubst du, auf wen sie wartet?«
Auch wenn er uns Gesellschaft leistete, sagte Egon nie viel während dieser Arbeitspausen, die er wohl für kindisch hielt. Ein passionierter Verleger, mit Augenbrauen, die Scharfsinn verraten, und einer markanten Nase, liest und entziffert er seit sechzig Jahren alles, was ihm in die Hände kommt, steht um fünf Uhr morgens auf, zündet sich seine erste Zigarette an, vertieft sich in Manuskripte, ackert Romane durch und verschlingt Essays. Es ist, als fänden sich in seinem weißen, viel zu langen Haar die Spuren eines abenteuerlichen Lebens wieder, der Wind der Länder, die er bereist, der Rauch von tonnenweise Tabak, den er verbrannt, die Träume in den Büchern, die er veröffentlicht hat. Er ist jemand, der nichts behauptet und nicht moralisiert und mich mit seiner konstanten Neugierde, seinem Entdeckungsdrang und seiner Sprachbegabung beeindruckt; ihm gegenüber komme ich mir wie ein Amateur vor.
Egon zuckte die Schultern, betrachtete die Meisen, die in dem blühenden Lindenbaum umherflatterten, und sagte:
»Ihre erste Liebe?«
Peinlich berührt durch dieses Geständnis und verärgert über diesen Ausrutscher, runzelte er die Stirn und sah mich streng an.
»Und was meinst du, Eric?«
»Ihre erste Liebe, die nicht zurückkommt«, murmelte ich.
Schweigen stellte sich ein. Wir alle hatten begriffen, dass wir in eine Falle gegangen waren. Durch diese unbekannte Frau hatten wir unsere geheimsten Wünsche preisgegeben, hatten gestanden, was wir in unserem Innersten erwarteten oder erwarten konnten. Zu gern hätte ich all diesen Leuten hinter die Stirn geblickt, um mehr zu erfahren. Und zugleich war ich froh, dass man nicht hinter die meine blicken konnte. Wie er schmerzt, dieser Schädel, dieser Schutzwall unausgesprochener Worte, dieses düstere Refugium zwischen meinen Schläfen! Es gibt Worte, die ich nicht aussprechen könnte, ohne zusammenzubrechen. Besser man schweigt. Verleiht uns allen das Schweigen nicht auch Tiefe?
Wieder zu Hause, dachte ich noch immer an die Frau mit dem Blumenstrauß. Da meine nächsten Reisen nach Zürich mit dem Flugzeug oder dem Auto erfolgten, kam ich nicht mehr zum Bahnhof.
Ein, zwei Jahre vergingen.
Das Besondere an dieser Frau war, dass ich sie vergaß, ohne sie zu vergessen, oder besser, dass ich immer an sie dachte, wenn ich mich allein fühlte oder niemanden hatte, an den ich mich wenden konnte … Ihr Bild verfolgte mich nur in Augenblicken der Bedrängnis. Doch als ich eines Tages mit Ulla telefonierte, kam ich wieder auf sie zu sprechen.
»Ja, ja, wenn ich es dir doch sage: Sie ist noch immer da. Jeden Tag. Bahnsteig drei. Zugegeben, sie beginnt müde zu werden; hin und wieder nickt sie auf ihrem Klappsessel ein, aber dann fängt sie sich wieder, hebt ihren Strauß auf und sucht mit ihren Blicken den Bahnsteig ab.«
»Sie fasziniert mich.«
»Ich verstehe nicht recht warum. Auch wenn sie nicht so aussieht, sie ist bestimmt gestört, eine arme Verrückte. Schließlich sucht man im Zeitalter von Telefon und Internet doch niemanden mehr auf einem Bahnsteig,
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