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Die Träumerin von Ostende

Die Träumerin von Ostende

Titel: Die Träumerin von Ostende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric-Emmanuel Schmitt
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Arme. Sie hielten sich lange und innig umschlungen. Selbst die Gepäckträger waren gerührt, sie strahlte nur so vor Glück. Der Mann war groß und trug einen langen dunklen Mantel, aber niemand konnte ihn erkennen, sein Gesicht war durch einen Filzhut teilweise verdeckt; soweit ich verstanden habe, schien er nicht überrascht, sie wiederzusehen. Sie haben den Bahnhof dann Arm in Arm verlassen. Im letzten Augenblick hat sie eine gewisse Eitelkeit an den Tag gelegt: Sie ließ ihren Klappsessel stehen, als würde er ihr nicht gehören. Ach, ich habe noch etwas vergessen, ein merkwürdiges Detail: Der Mann reiste ohne Gepäck, das Einzige, was er in der Hand trug, war der orangefarbene Strauß, den sie ihm geschenkt hatte.«
    »Und dann?«
    »Mein Freund, ein Nachbar, hat mir den Rest erzählt. Habe ich ihn übrigens schon erwähnt? Er wohnt eine Straße weit von Frau Steinmetz entfernt.«
    »Ja, ja. Sprich nur weiter, bitte.«
    »An diesem Abend ist der Mann mit zu ihr nach Hause gegangen. Sie schickte die Frau, die für sie arbeitete, weg und sagte ihr, sie solle erst am nächsten Tag wiederkommen. Was die Türkin dann auch tat.«
    »Und?«
    »Wie gesagt, sie kam erst am nächsten Tag wieder.«
    »Und?«
    »Die Frau mit dem Blumenstrauß war tot.«
    »Wie bitte?«
    »Gestorben. Eines natürlichen Todes. Ihr Herz hatte aufgehört zu schlagen.«
    »Hat nicht vielleicht er …?«
    »Nein. Völlig ausgeschlossen. Herzstillstand, ärztlich bestätigt. Er hat nichts damit zu tun. Zumal er …«
    »Ja?«
    »Verschwunden war.«
    »Was?«
    »Pfft! Spurlos verschwunden! Als wäre er nie da gewesen. Die Türkin hat ihn angeblich nie gesehen.«
    »Gerade hast du mir …«
    »Ja, mein Freund, der Nachbar, hat ausgesagt, dass der Mann bei ihr war, aber die Haushälterin bestreitet das entschieden. Jedenfalls ist die Polizei an der Sache nicht weiter interessiert, weil nichts an diesem Tod verdächtig ist. Mein Freund hat aufgegeben, er insistiert nicht weiter, die Nachbarschaft hatte ihn schon für verrückt erklärt.«
    Wir machten es uns in unseren Ledersesseln bequem, um weiter unsere Cocktails zu schlürfen. Wir überlegten eine Weile.
    »Also keine Spur von ihm? Nichts, man weiß nichts?«
    »Absolut nichts.«
    »Aus welcher Stadt kam sein Zug?«
    »Das konnte mir niemand sagen.«
    Wir baten den Barkeeper um eine zweite Runde, als könnte der Alkohol das Geheimnis lüften.
    »Wo ist die Türkin?«
    »Gegangen. Zurück in ihr Land.«
    »Und wer ist Erbe der Villa?«
    »Die Stadt.«
    Somit gab es also kein niederes Motiv, das hätte erklären können, was vorgefallen war. Jetzt war eine dritte Runde angesagt. Der Barkeeper warf uns einen besorgten Blick zu.
    Wir schwiegen.
    Es war Ulla und mir zwar nicht gelungen, mehr in Erfahrung zu bringen, doch hielt uns die Sache noch immer gefangen. Für gewöhnlich haben solche Geschichten im Leben keine Chance: Manchmal spürt man morgens, dass etwas in der Luft liegt, etwas Vollkommenes, Klares, Besonderes, dann läutet das Telefon, und alles ist vorbei. Das Leben zerreißt, zersplittert, vernichtet uns, verweigert uns die klare Linie. Das Besondere an der Frau mit dem Blumenstrauß war, dass ihr Leben noch einmal Form annahm, ihr Schicksal hatte etwas unbestechlich Literarisches, etwas von der Ökonomie eines Kunstwerks.
    Um zwei Uhr nachts trennten wir uns, um schlafen zu gehen, aber der Schlaf ließ sich Zeit und kam lange nicht. Ich grübelte bis zum Morgengrauen. Auf wen nur hatte die Frau mit dem Blumenstrauß auf Bahnsteig drei des Züricher Hauptbahnhofs gewartet?
    Und ich glaube, ich werde mich bis ans Ende meiner Tage fragen, wer aus dem Zug stieg, ob es die Liebe war oder der Tod.

Über Eric-Emmanuel Schmitt
    Eric-Emmanuel Schmitt, geboren 1960 in St.-Foy-les-Lyons, studierte Klavier in Lyon und Philosophie in Paris. Anfang der 90er Jahre begann er als Autor für Theater, Film und Fernsehen zu arbeiten. Er lebt heute in Brüssel. Seine erste Prosapublikation in deutscher Sprache ›Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran‹ begeisterte Hunderttausende von Leserinnen und Lesern und wurde mit dem Deutschen Bücherpreis 2004 als »Publikumsliebling des Jahres« ausgezeichnet.

Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de

Impressum
    Die französische Originalausgabe erschien
2007 unter dem Titel ›La rêveuse d’Ostende‹
bei Édition Albin Michel, Paris
Copyright © Édition Albin Michel 2007

Covergestaltung: hißmann,

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