Die Träumerin von Ostende
begann, die Geschichte nochmals für ihre Freundinnen zu erzählen.
»Ich begreife nicht, wie es dazu kommen konnte. Maurice war so nett dieses Jahr. Viel umgänglicher als die anderen Male. Unkomplizierter. Ich glaube, er wusste irgendwie, dass ich krank gewesen bin, dass ich Krebs hatte und eine Chemotherapie hinter mir. Vielleicht hat es ihm jemand gesagt. Oder er hat es geahnt. Die ganzen letzten Tage war er so zugewandt, erklärte mir immer wieder, dass er mich gernhätte, so wie ich sei, und dass ich ihm nichts zu verheimlichen bräuchte. Aber so einfach ist das nicht. Ich kann mich nicht damit abfinden, dass ich durch die Behandlung mein Haar verloren habe und deshalb eine Perücke tragen muss. Ich glaube, am ersten Abend hat er mich gesehen, unten, im Schlafanzug und ohne Perücke, ich habe ein Buch gesucht, das ich im Supermarkt gekauft hatte und nicht mehr finden konnte. Gestern Abend, als ich ihm, wir hatten zuvor noch Tee getrunken, an seiner Tür gute Nacht sagte, habe ich entdeckt, dass das verflixte Buch auf dem Bett in seinem Zimmer lag. Und als es dann so gegen Mitternacht war und ich immer noch nicht schlafen konnte – seit meiner Krankheit habe ich damit Schwierigkeiten –, dachte ich, du gehst jetzt einfach hin und nimmst dir das Buch, ohne ihn zu stören. Maurice hat friedlich geschlummert. Ich hab aufgepasst, dass ich keinen Lärm mache und ihn nicht wecke, ja, und dann, ich war gerade dabei, meine Hand auf das Buch zu legen, wirft er sich plötzlich auf mich. Es hat furchtbar weh getan, ich habe eine Messerklinge gesehen, habe geschrien und mich verteidigt, dabei ist er zurückgetaumelt, gegen die Wand geprallt, auf die Seite gefallen und dann, bums, wie ein Schlag ins Genick! Es war die Kante von seinem Nachttisch! Mausetot!«
Sie schluchzte, konnte nicht weitersprechen.
Der Kommissar rieb sich nicht eben überzeugt das Kinn und beriet sich mit seinen Leuten. Ein Unfall schien ihnen wenig wahrscheinlich. Warum hätte der Mann ein Messer in seinem Bett haben sollen, wenn er nicht einen Angriff seiner Cousine befürchtet hätte?
Ungeachtet der protestierenden Frauen, die ihrer Freundin beistanden, erklärte er Sylvie für verhaftet. Es waren nicht nur keinerlei Spuren eines Kampfes zu finden, sondern Sylvie war nach eigenen Aussagen auch Alleinerbin des Opfers. Man legte ihr Handschellen an und führte sie ab.
Der Kommissar ging nochmals allein nach oben, er trug Handschuhe und verstaute die beiden Beweisstücke in durchsichtigen Plastiktüten: ein riesiges Küchenmesser und ein Buch,
Das Zimmer der dunklen Geheimnisse
von Chris Black, dessen Seiten ebenfalls mit Blut befleckt waren.
Als er die Plastiktüte verschloss, die das Buch enthielt, überflog er, was unter den bräunlichen Blutspuren noch zu entziffern war, stieß einen Seufzer aus und murmelte:
»Manche Leute lesen wirklich miserable Bücher …«
Die Frau mit dem Blumenstrauß
A uf Bahnsteig drei des Züricher Hauptbahnhofs wartet seit fünfzehn Jahren Tag für Tag eine Frau mit einem Blumenstrauß in der Hand.
Anfangs habe ich es nicht glauben wollen. Ich war bereits mehrere Male zu Egon Ammann, meinem deutschsprachigen Verleger, gereist, bevor ich sie überhaupt bemerkte, und auch dann brauchte es noch eine ganze Weile, bis ich mein Erstaunen in Worte fassen konnte, denn die alte Dame wirkte so normal, so würdig und vornehm, dass sie kaum auffiel. Sie trug ein schwarzes Wollkostüm mit langem Rock, dazu dunkle Strümpfe und flache Schuhe; aus ihrer Lederhandtasche ragte ein Regenschirm mit einem Griff in Form eines Entenschnabels; und eine Perlmuttspange hielt ihr Haar im Nacken zu einem Knoten zusammen, während sich in ihren behandschuhten Händen ein bescheidener Feldblumenstrauß, in dem die Farbe Orange vorherrschte, wie ein Farbklecks ausnahm. Nichts an ihr wies auf ein gestörtes oder exzentrisches Verhalten hin, und so maß ich unserer Begegnung keine besondere Bedeutung bei.
An einem Frühlingstag aber, als mich Ulla, eine Mitarbeiterin von Ammann, an der Tür meines Waggons in Empfang nahm, deutete ich auf die Unbekannte.
»Seltsam, irgendwie habe ich das Gefühl, ich habe diese Frau schon häufiger gesehen. Was für eine Koinzidenz! Wahrscheinlich wartet sie auf meinen Doppelgänger, jemand, der immer denselben Zug wie ich nimmt und zur selben Zeit.«
»Ganz falsch«, rief Ulla, »sie steht jeden Tag hier und hält Ausschau.«
»Nach wem?«
»Nach jemandem, der nicht kommt … denn wenn sie
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