Die unterirdische Sonne
gedeckt. Sophia brachte den Wagen auf der schmalen, abschüssigen Straße zum Stehen und behauptete, das Reet auf dem Dach sei wie eine Art Stroh. Das habe ihr eine Freundin erzählt, die aus dem Norden stammte.
»Kann man gut anzünden«, sagte sie.
Bevor sie ausstieg, wandte sie sich zu den anderen um. »Ihr bleibt hier. Gib mir die Kisten, Eike.«
»Spinnst du, oder was?«, sagte Eike. »Ich komm mit.« Er drängte Maren und Leon beiseite, kletterte in dem geräumigen Fahrzeug über die Sitze nach vorn, in jeder Hand eine Kiste.
Draußen wehte ein kalter Wind, der nach Algen roch. Im Haus war es dunkel. Um das Grundstück verlief eine Hecke. Im verwilderten Garten standen sechs Tannenbäume und Büsche und eine Laterne, die nicht brannte. Das hauptsächlich aus getrocknetem Schilfrohr bestehende Dach reichte fast bis zum Boden.
Mit dem Feuerzeug zündete Sophia eine der Kisten an und warf sie aufs Dach. Sofort fraßen sich die Flammen ins Schilf.
Eike schleuderte die zweite Kiste hinterher und Conrad steckte unaufhörlich brennende Streichhölzer ins Dachgeflecht.
»Wenn einer rausrennt, schieß ich.« Eike zog die Pistole aus der Jackentasche.
Niemand kam aus der Tür.
Der Wind fachte das Feuer an.
»Wir fahren wieder«, sagte Sophia.
Eike zielte weiter auf die Tür.
»Komm jetzt.« Sophia packte ihn an der Schulter und zerrte ihn zum Auto.
Fünf Minuten später waren sie zurück auf der Hauptstraße und versäumten das Spektakel der vom Dach rutschenden Reetbündel.
Das Haus hatte keine Brandtür mit einem schützenden Giebel darüber. Das bedeutete, dass der Mann, der Noah ermordet hatte, die Eingangstür aufriss und ins Freie laufen wollte. In diesem Moment fiel eines der lodernden Bündel auf ihn.
Bevor der erste Feuerwehrwagen und der Notarzt eintrafen, war der Mann – obwohl er sich natürlich zu retten versuchte – bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Aufgrund einer DNS -Analyse wurde er später im Gerichtsmedizinischen Institut doch noch identifiziert – als Emanuel Borg, ledig, gelernter Kfz-Mechatroniker.
Auch den verkohlten Leichen der beiden anderen Personen im Haus ordnete die Polizei im Lauf der folgenden Woche Namen zu. Es handelte sich um das Ehepaar Inge und Franz Wells – sie einundsechzig, er vierundsechzig Jahre alt –, das bis vor sechs Jahren in Seilheim auf der Insel Vohrland ein Restaurant mit Meerblick betrieben hatte. Ihr Haus in den Dünen an der Südspitze galt bei den Nachbarn als unauffällig und ordentlich, auch wenn das Ehepaar offensichtlich sehr zurückgezogen gelebt und kaum noch alte Bekanntschaften aus ihrer Zeit in der Gastronomie gepflegt hatte.
Wenige Tage nach dem Brand und der Entdeckung des illegal ausgebauten Kellers und der Räume, in denen sich – wie Reporter berichteten – Kameras und Abhöranlagen, diverse Folterwerkzeuge, ein deckenhoher Käfig und zwei Metallbetten befunden hatten, entdeckte ein Mann in einem Parkhaus nahe des Seilheimer Bahnhofs den schwarzen Geländewagen, nach dem die Polizei fahndete.
Nachbarn hatten ausgesagt, sie hätten ein entsprechendes Fahrzeug in der Nacht des Feuers auf dem Grundstück bemerkt. Im Parkhaus waren keine Überwachungskameras installiert, aber über das Kennzeichen fand die Polizei den Namen des Halters schnell heraus: Emanuel Borg. Da er den Wagen nicht selbst dort abgestellt haben konnte, kamen dafür vermutlich nur jene Personen in Frage, deren DNS -Spuren die Spurenleser der Kripo im Inneren des Wagens und nach mühseliger Kleinarbeit auch in dem Endener Haus entdeckt hatten.
Sechs Jugendliche, die seit Wochen und Monaten als vermisst galten.
Auf einer Pressekonferenz im von Journalisten überfüllten Rathaus in Seilheim erklärte der Leiter der Sonderkommission Enden, Kriminalhauptkommissar Jens Paulsen, die Polizei habe bedauerlicherweise weiterhin keinerlei konkrete Hinweise auf den Aufenthaltsort der zwei Mädchen und vier Jungen. Die bisherigen Ermittlungen würden darauf hindeuten, dass die Kinder in dem Haus gefangen gehalten und missbraucht worden seien. Reste entsprechender Fotos hätten die Fahnder sichergestellt.
Was die Hintermänner oder Helfershelfer des Ehepaars Wells betreffe, so wollte der Soko-Leiter unter Hinweis auf bundes- und europaweit geführte Ermittlungen derzeit keine näheren Angaben machen.
Er bestätigte eine Agenturmeldung, wonach Polizeibeamte Anfang Oktober das Ehepaar Wells befragt hätten, nachdem Nachbarn ein unbekannter Lieferwagen in der Gegend
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