Die Verdammnis
Rauhreif einen starren Gegenstand umwucherten. Und auf eine Art, die aller Natur hohnsprach, verband sich dieses wachsende Etwas mit Landrus Bewußtsein; in der Tat ganz so, als knüpften Hunderte oder gar Tausende von winzigen, aber eiskalten Händen Geist und Körper an ebenso vielen Punkten aneinander.
Obwohl Landru in seinem beinahe ewigen Leben nie etwas auch nur annähernd Qualvolles widerfahren war, gelang es ihm, die damit einhergehenden Schmerzen zu ignorieren. Zum einen, um sich vor dem Wahnsinn zu schützen, zum anderen, weil das, was er au-ßerdem noch wahrnahm, ihn ablenkte und alles Leiden überwog.
Hatten die Stimmen und vor allem die Worte, die sie sprachen, in den ersten Momenten noch Schrecken in ihm geweckt, so schlug das Gefühl nun um. Es verkehrte sich fast ins Gegenteil, wurde erst zu vager Hoffnung, und dann, als ihm die Tragweite des Ganzen allmählich zu Bewußtsein kam, zu Euphorie.
Landru hegte keinen Zweifel mehr an der Identität der Stimmen. Die eine war seine eigene, die andere die - - Felidaes! Die Stimme der Kelchdiebin!
Und die Worte, die beide miteinander wechselten, waren einst gesprochen worden zu der wohl dunkelsten Stunde in der Geschichte der Alten Rasse - im Dunklen Dom, tief im steinernen Leib des Berges Ararat, wo die Heimstatt der Hüter lag .. . 2
Das Geräusch eines kurzen Handgemenges klang auf und hallte von den Wänden des Felsendoms wider, der in seiner Form einem Vulkankegel glich. Dann schrie dieser andere Landru (und wenn es sich so verhielt, wie Landru vermutete, dann war dieser andere jener, der in diese Zeit gehörte!): »Du bist nicht der nächste Hüter!«
Landru wußte bereits, was sein Pendant weiter brüllen würde, weil er selbst der Kelchdiebin die Worte wutentbrannt entgegengestoßen hatte - damals, als er sich des größten aller möglichen Vergehen schuldig gemacht hatte .
»Verbirg dich nicht länger hinter Maske und Tuch!«
Noch immer sah Landru nicht, was um ihn her war. Aber seine Erinnerung ersetzte ihm das Sehvermögen. Bilder stiegen in ihm auf, und sie waren plastischer als jede tatsächliche Wahrnehmung es sein konnte, so tief hatten sie sich ihm nicht einfach nur ins Bewußtsein, sondern in die Seele selbst gebrannt .
Eben hatte er der Gestalt, die Anspruch auf den Lilienkelch erhob, die übers Gesicht genähte Maske abgerissen. Nun streifte sie die Kapuze ihres Gewandes zurück, Rotes Haar quoll unter den Rändern hervor. Und mit dunkler Stimme, die wie die Sünde selbst klang, sprach sie:
»Es ändert nichts: Deine Zeit ist um! In meine Obhut wurde das Unheiligtum übertragen. Ich soll es künftig durch die Welt leiten. Ich bin dazu berufen . «
In ihren wenigen Worten schlug sich Landrus Tragik in ganzer Tragweite nieder. Seine Zeit als Hüter des Kelchs war vorüber. Tausend Jahre lang, wie es die Bestimmung vorsah, hatte er das Amt bekleidet und das Unheiligtum der Vampire um die Welt geführt, von Sippe zu Sippe, um Menschenkinder damit zu taufen und zu schwarzblütigen Nachkommen der Alten Rasse zu machen.
Nun - im Jahre 1727, da seine Amtszeit abgelaufen war - hatte es Landru zurück in den Dunklen Dom gezogen, wo er vor tausend Jahren erwacht war, um den Kelch von seinem Vorgänger zu übernehmen.
Aber Landru war nicht bereit gewesen, seinen Status als mächtigster Vampir auf Erden aufzugeben. Er hatte die Macht, die der Kelch bedeutete, behalten wollen - und er war fest entschlossen gewesen, dafür alles in die Waagschale zu werfen.
Er hatte gewußt, daß er die Gesetze der Hüterschaff nicht nur brach, sondern schier mit Füßen trat mit dem, was er vorhatte. Aber es hatte ihn nicht gerührt.
Denn er hatte geahnt, daß es im Grunde um mehr noch ging als nur um den Gral - sein Leben selbst mochte auf dem Spiel gestanden haben! Weil ein Hüter, der seine Aufgabe erfüllt hatte, vielleicht ausgelöscht werden würde von der Hand jener Macht, die der Alten Rasse den Lilienkelch ganz am Anfang übergeben haben mußte.
Aber auch wenn Landru sein Leben hätte behalten dürfen, es wäre ihm nicht länger lebenswert erschienen. Ohne den Kelch wäre er nur ein Vampir unter vielen gewesen, und in solcher Erniedrigung wollte er sein Dasein nicht fristen - nicht nachdem er tausend Jahre lang im wörtlichen Sinn Herr über Leben und Tod eines ganzen Volkes gewesen war.
So hatte er den Dingen in der Heimstatt der Hüter, wo sein Nachfolger in einer dunklen Kammer erwachen sollte, nicht ihren Lauf gelassen und sich gegen sie
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