Die vergessene Frau
Prolog
San Francisco, Dezember 1958
So schnell die stämmigen Beine sie trugen, eilte Schwester Marie den dunklen Korridor entlang. Auch wenn sie es den anderen Nonnen nie eingestanden hätte, hatte sie oft Angst, wenn sie nachts allein durchs Kloster lief. Heute Abend war es noch schlimmer als sonst. Nach einem Blitzschlag war der Strom ausgefallen, und die Flamme ihrer Kerze warf gespenstische Silhouetten an die Steinmauern, so als würden links und rechts Schattendämonen ihren Weg säumen und nur auf sie lauern.
»Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln«, murmelte sie leise vor sich hin und versuchte aus den Worten Kraft zu schöpfen. »Er weidet mich auf einer grünen Aue.«
Während Schwester Marie den Psalm rezitierte, schauderte sie schon wieder, diesmal allerdings vor Kälte und nicht vor Angst. Zu dieser Jahreszeit konnte nicht einmal die schwere wollene Ordenstracht sie wärmen. Eine knappe Woche vor Thanksgiving war das Wetter schließlich umgeschlagen. Die kalte, klare Sonne ging von Tag zu Tag früher unter, und dann stieg der berüchtigte San-Francisco-Nebel aus dem Meer auf, schlang sich um die dicken Pfeiler der Golden Gate Bridge und wälzte sich anschließend in die Bucht, um sich von dort aus in die Stadt zu schleichen und den Telegraph Hill herauf bis zum Waisenhaus der Sisters of Charity zu klettern. Oft, wenn Schwester Marie schlaflos in ihrer zweieinhalb mal dreieinhalb Meter großen Zelle lag, stellte sie sich vor, dass sich der Nebel durch die Schlüssellöcher und Türritzen zwängte wie die Gespenster in den Gruselfilmen, die ihr jüngerer Bruder so gern ansah.
Hör auf, rief sie sich zur Ordnung. Immerhin hatte ihre überaktive Fantasie die Äbtissin beim letzten Konvent zu der Bemerkung veranlasst, das Leben als Nonne sei vielleicht nicht das Richtige für sie. Aber auch wenn Schwester Marie das Postulat – die sechsmonatige Probezeit, in der sie entscheiden musste, ob sie den Schleier nehmen wollte – nur unter Mühen überstanden hatte, wollte sie auf gar keinen Fall aufgeben. Schließlich hatte die Leitung des Klosters den Beschluss gefällt, dass es ihr erlaubt werden sollte, das Noviziat fortzusetzen – die Ausbildung vor dem Ablegen des Gelübdes –, aber dass sie dazu den geschlossenen Orden verlassen musste. Ein Umzug ins Waisenhaus war allen als die beste Lösung erschienen. Schwester Marie liebte Kinder und hatte schon immer gewusst, dass die Mutterschaft jener Aspekt des weltlichen Lebens war, auf den sie am schwersten verzichten konnte. Nun würde sie nicht ohne Kinder leben müssen.
Das Waisenhaus war im neunzehnten Jahrhundert von den Sisters of Charity gegründet worden und wurde durch Spenden der reichen Katholiken in der Stadt finanziert. Im Augenblick befanden sich siebenundneunzig Kinder in der Obhut der Einrichtung – und heute Abend sollte ein weiteres dazukommen. Spät am Abend, als sich die Nonnen gerade in ihre Zellen zurückziehen wollten, hatte jemand angerufen und gefragt, ob sie noch Platz für ein weiteres Kind hätten. Offenbar ging es um ein nur wenige Tage altes Neugeborenes. Abgesehen davon wussten sie nichts über den Neuankömmling: weder das Geschlecht noch warum das Kind hier abgegeben wurde. Die Sache war höchst eigenartig.
Schwester Marie sollte zusammen mit der Mutter Oberin wach bleiben und auf das Kind warten. Doch als sich Stunde um Stunde dahinschleppte, hatte sie sich zu langweilen begonnen. Die Mutter Oberin hatte ihrem Zappeln schließlich nicht mehr zusehen können und sie in die Küche geschickt, wo sie ihnen beiden ein kleines Abendessen bereiten sollte. In diesem gespenstischen Bau ganz allein in die Küche hinunterzugehen war schon schlimm genug. Jetzt, auf dem Rückweg, kam die junge Nonne noch langsamer voran, denn diesmal trug sie ein Tablett mit zwei Bechern Kakao und einem Teller voll dick geschnittener Marmeladebrote. Sie wäre noch langsamer gewesen, wenn nicht in diesem Moment ein Windstoß durch den Korridor gefegt wäre, der ihre Kerze ausblies und das Waisenhaus in vollkommene Dunkelheit tauchte. Unter einem erschrockenen Aufschrei ließ Schwester Marie das Tablett fallen. Das Scheppern von Metall und Porzellan auf dem Steinboden hallte von den hohen Mauern wider, während sie die letzten Meter zum Büro der Mutter Oberin rannte.
Ohne anzuklopfen, platzte sie in den Raum.
»Mutter Oberin!« Sie keuchte so schwer, dass sie kaum noch sprechen konnte. »Sie können sich nicht vorstellen, was gerade
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