Die vergessenen Welten 01 - Der gesprungene Kristall
strahlenden Zukunft ausmalte, erlosch plötzlich das Lächeln auf seinem Gesicht. Er drehte sich scharf zu dem Mann an seiner Seite um, und seine Gesichtszüge wurden starr, als sei ihm ein schrecklicher Fehler eingefallen. Eideluc und einige andere in der Gasse wurden nervös. Ihnen war das volle Ausmaß der Folgen wohl bewußt, das sie treffen würde, wenn der Erzmagier des Hauptturms des Geheimwissens von diesem Mord erfahren sollte.
»Die Robe?« fragte Kessell. »Hätte ich die rote Robe mitbringen sollen?«
Eideluc konnte sich ein erleichtertes Kichern nicht verkneifen, doch Kessell hielt es für eine tröstende Geste seines neuen Freundes.
Ich hätte wissen müssen, daß so etwas Banales ihn derart in Panik versetzen kann, dachte Eideluc, aber zu Kessell sagte er lediglich: »Mach dir deswegen keine Sorgen. Im Hauptturm gibt es unzählige Roben. Außerdem würde es ja wohl ein wenig verdächtig aussehen, wenn du dich an der Tür des Erzmagiers zeigst, den frei gewordenen Platz von Morkai dem Roten für dich beanspruchst und dabei die Robe trägst, in der der Zauberer ermordet wurde.«
Kessell dachte über das Argument nach und stimmte zu.
»Vielleicht«, fuhr Eideluc fort, »solltest du sowieso nicht die rote Robe tragen.«
Kessell kniff entsetzt die Augen zusammen. Seine alten Selbstzweifel, die ihn schon seit seiner Kindheit verfolgten, stiegen wieder in ihm hoch. Was hatte Eideluc gerade gesagt? Hatten sie etwa ihre Meinung geändert und wollten ihm nun doch nicht den Platz zuweisen, den er sich rechtmäßig verdient hatte?
Eideluc hatte ihn mit dieser zweideutigen Bemerkung nur necken wollen und keineswegs beabsichtigt, Kessell in den gefährlichen Zwiespalt seiner Selbstzweifel zu stoßen. Mit einem zweiten Zwinkern zu Dendybar, der dieses Spiel durch und durch genoß, beantwortete er die unausgesprochene Frage des armen Teufels: »Ich meine nur, daß dir vielleicht eine andere Farbe besser steht. Blau würde gut zu deinen Augen passen.«
Vor Erleichterung entfuhr Kessell ein nervöses Kichern.
»Vielleicht«, stimmte er zu, während er nervös mit seinen Fingern spielte.
Auf einmal wurde Dendybar der Farce überdrüssig und gab seinem stämmigen Gefährten ein Zeichen, sich des lästigen Lehrlings zu entledigen.
Eideluc führte Kessell gehorsam die Gasse hinunter. »Jetzt geh zu den Ställen zurück«, wies er ihn an. »Sag dort Bescheid, daß die Zauberer noch in dieser Nacht nach Luskan aufbrechen.« »Aber was ist mit der Leiche?« fragte Kessell.
Eideluc lächelte böse. »Laß sie dort liegen. Die Hütte ist sonst für reisende Händler reserviert. Wahrscheinlich wird sie bis zum nächsten Frühling leerstehen. Ein Mord wird in diesem Teil der Welt wenig Aufsehen erregen, das versichere ich dir, und selbst wenn die guten Bürger von Osthafen herausfinden sollten, was wirklich passiert ist, werden sie klug genug sein, sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern und sich nicht in die der Zauberer einmischen!«
Die Reisegruppe aus Luskan trat aus dem Schatten der Straße in das schwindende Sonnenlicht. »Verschwinde jetzt!« befahl Eideluc. »Sieh nach uns, sobald die Sonne untergegangen ist.« Er sah Kessell nach, der wie ein begeisterter, kleiner Junge davoneilte.
»Was für ein Glück, daß wir dieses angenehme Werkzeug gefunden haben«, spottete Dendybar. »Dieser Zauberlehrling ist wirklich an Dummheit unübertroffen, aber er hat uns viel Ärger erspart. Ich bezweifle, daß wir sonst eine Möglichkeit gefunden hätten, an diesen listigen Alten heranzukommen. Und nur die Götter werden wissen, wieso Morkai ausgerechnet für diesen erbärmlichen kleinen Lehrling ein so weiches Herz hatte.«
»Weich genug für eine Dolchspitze!« fiel lachend eine zweite Stimme ein.
»Und der Schauplatz ist so vortrefflich«, bemerkte ein anderer. »An diesem primitiven Außenposten sind Leichen, für die es keine Erklärung gibt, nichts weiter als ein kleines lästiges Übel für die Putzfrauen!«
Lautes Lachen schüttelte Eidelucs stämmigen Körper. Die greuliche Tat war erledigt, und sie konnten endlich diese öde Eiswüste verlassen und nach Hause zurückkehren.
Kessell ging mit raschen Schritten durch das Städtchen Osthafen auf die Scheune zu, wo die Pferde der Zauberer untergebracht waren. Ihm war, als würde sich durch die Tatsache, daß er nun bald ein Zauberer werden würde, in seinem täglichen Leben wirklich alles ändern, als habe eine geheimnisvolle Kraft seine so unzulängliche
Weitere Kostenlose Bücher