Die verlorene Kolonie
- 1 -
Ich schoss den Utopia Parkway entlang. Es war schon dunkel und ich war spät dran. Meine Freunde erwarteten mich bestimmt schon. Laut fluchend wich ich einem einbiegenden Auto aus, fing mein Rad wieder und trat noch heftiger in die Pedale.
Ein Fahrradfahrer und dann noch auf den Straßen von Queens, New York City, das war etwas Besonderes. Nicht, dass die Autofahrer deswegen auf mich Rücksicht nehmen würden, aber einen neugierigen Blick erntete ich immer, wenn ich mit meinem Gefährt unterwegs war.
Ich nahm eine Abkürzung durch eine schlecht beleuchtete Gasse voller Müll und kam wenig später auf der vielbefahrenen Parallelstrecke zum Expressway raus. Ich war in Queens aufgewachsen und kannte in diesem Stadtteil jede Straße. Hinter mir hupte ein Auto, als ich abbog und unter dem Expressway durchfuhr. Das Rauschen des Verkehrs oben auf der Brücke hörte sich an wie Meeresbrandung.
Zu meiner Rechten kamen die Gebäude des Queens College in Sicht. Hier studierte ich amerikanische Geschichte zusammen mit meinen beiden Freunden Ben und Addy. Wir hatten uns zu einem Treffen im „The Fridge“ am Kissena Boulevard verabredet. Die Studentenkneipe hieß so, weil das Haus aussah wie ein gigantischer Kühlschrank. Es war mehr hoch als breit und hatte eine weißglänzende Fassade ohne Fenster. Nur unten im Erdgeschoss befand sich eine einzige Tür, über der die blaue Neonreklame mit dem Namen der Kneipe blinkte.
Ich stellte mein Fahrrad an einen Laternenpfahl und schloss es mit einer Kette und einem altmodischen Vorhängeschloss an. Dann nahm ich den Helm mit dem Plexiglasvisier vom Kopf, klemmte ihn mir unter den Arm und betrat mit wachsender Vorfreude das „Fridge“. Ich hatte meinen Freunden etwas Aufregendes zu erzählen.
Grünliches Licht empfing mich und schwatzende Studenten aus allen Fakultäten. Die Kneipe war beliebt und bestand aus einem langgestreckten Raum mit einer Glasfront als Rückwand, durch die man hinaus auf den Patio blicken konnte. Auf der linken Seite thronte die wuchtige, mit grünen Diodenleisten beleuchtete Theke, hinter der zwei flache Fernsehbildschirme in die Wand eingelassen waren. Meistens wurden darauf Sportereignisse oder Musikvideos gezeigt. Im Moment war Präsidentin Bush bei einer offiziellen Rede zu sehen. Es war Wahlkampf.
Ich sah mich in dem gutbesuchten Lokal nach meinen Freunden um, aber sie entdeckten mich zuerst.
„Jerry! Hier sind wir! Huhuuu!“, hörte ich Ben rufen und sah ihn an einem kleinen Tisch in einer Nische an der Wand sitzen. Er winkte. Ich warf ihm ein Grinsen zu und bahnte mir den Weg durch die Gäste. Dabei ließ ich Addy, die neben Ben saß, nicht aus den Augen. Auch wenn sie heute nur einen schlichten, blauen Pulli und einen Pferdeschwanz trug, sah sie für mich umwerfend aus.
„Sorry, dass ich zu spät bin“, sagte ich, als ich bei ihnen ankam, und setzte mich.
„Was ist denn das? Etwa Schweiß?“, fragte Addy und fuhr mit dem Finger über meine Stirn. Ihre Berührung zu spüren, war unangenehm und aufregend zugleich, und ich musste mir Mühe geben, nicht rot zu werden.
„Bist du etwa mit deinem vorsintflutlichen Gefährt da, du Teufelskerl?“, fragte Ben und grinste. „Willst dich wohl umbringen.“
„Ach, was“, wiegelte ich ab. „Ich hab ja den Helm.“ Ich klopfte auf die Hartschale neben mir auf dem Stuhl.
„Na, sofern das mal hilft, wenn dich ‘n Pickup überrollt!“
„Jerry will halt fit bleiben“, nahm Addy mich in Schutz und lächelte mich an. Ein warmes Gefühl machte sich in mir breit.
„Ich glaube, dafür gibt es weniger gefährliche Übungen“, erwiderte Ben lachend.
„Kann ja nicht jeder so eine Sportskanone sein, wie du es bist“, neckte Addy und warf auch Ben ein Lächeln zu. Mein warmes Gefühl verwandelte sich in lauwarme Zweifel. War da doch etwas zwischen den beiden?
Benjamin Greenstein war mein bester Freund. Wir kannten uns seit fünf Jahren. Hatten uns aber nicht etwa auf dem College kennengelernt, sondern ein Jahr zuvor bei einer Occupy-Veranstaltung in Manhattan auf der Ninth Avenue vor der Google-Zentrale. Sein Zelt stand neben meinem, während wir gegen die Fusion der US National Bank mit Google demonstrierten. Das Informationsimperium wurde immer mächtiger und drängte mit aller Macht auf den Finanzsektor. Wir als aufgeklärte Kinder von Eltern, denen das Misstrauen gegen die sozialen Netzwerke und deren Handel mit Informationen nie abhandengekommen war, protestierten gegen diese
Weitere Kostenlose Bücher