Die Wächter von Jerusalem
noch nicht da. Wir … Oh, da kommt er!«
Hannah deutete zur Stirnseite der Höhle. Ein Raunen ging durch die Menge der Versammelten, und augenblicklich verstummten alle Gespräche. Aus einem schmalen Spalt im Fels trat Pater Giacomo. Er trug ein knöchellanges braunes Gewand aus einem schlichten, grob gewebten Tuch, das mit einem Kälberstrick gegürtet war, und an den Füßen Sandalen. Sein Kopf war unbedeckt, der Schädel glatt rasiert, abgesehen von einem Kranz brauner Haare, der im Schein der Fackeln golden schimmerte wie ein Heiligenschein. Sein Gesicht war das eines Asketen – hager, voller Weisheit und Demut. Doch seine Augen glühten. Dieser dort, der mit gesenktem Haupt vor ihnen stand, bescheiden und doch so erhaben, war ein Heiliger. Elisabeth kannte kein schöneres Gesicht als seines – abgesehen vielleicht das von Anselmo, dem Sohn ihres Herrn Cosimo de Medici. Doch Anselmo war ein junger Mann wie andere junge Männer auch. Er gab sich ganz und gar den weltlichen Genüssen und Freuden hin, er war ein Kind der Sünde des Fleisches. Aber vielleicht konnte auch seine Seele gerettet werden?
Alle Versammelten erhoben sich fast gleichzeitig. Es war jetzt so still, dass man eine Feder hätte zu Boden fallen hören können.
Langsam und bedächtig trat Pater Giacomo an den Rand des Plateaus, das den Altarraum bildete, sodass jeder in der Höhle ihn sehen konnte. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, und er schaute zu ihnen herab. Jeden Einzelnen von ihnen traf der Blick seiner Augen, und ein Leuchten erhellte sein Antlitz, bei dem Elisabeth das Herz aufging. Es war, als ob der Himmel den hier Anwesenden erlauben würde, einen flüchtigen Eindruck von der Herrlichkeit des Paradieses zu erhaschen.
»Brüder und Schwestern im Herrn«, begann Pater Giacomo mit seiner unvergleichlichen Stimme, die Elisabeth jedes Mal Tränen der Ergriffenheit in die Augen trieb. »Es erfüllt mich mit Freude, euch auch heute im Namen des Herrn begrüßen zu dürfen. Und ich empfinde eine tiefe Dankbarkeit, dass unsere Zahl weiter angewachsen ist. Noch mögen wir wenige sein, noch müssen wir uns vor den Augen und Ohren der anderen verbergen. Doch unsere Botschaft breitet sich aus. Und ich sage euch, meine Schwestern und Brüder, der Tag wird kommen – und er wird bald kommen –, da wir uns nicht mehr hier in den Steinbrüchen des weisen Königs Salomon verstecken müssen. Der Tag wird kommen, da werden wir zahlreich sein wie die Sterne am Himmel. Wir werden diese Höhle verlassen und auf die Straßen und Plätze der Stadt gehen, und niemand , das sage ich euch, meine Brüder und Schwestern, niemand wird unsere Stimme überhören. Sie wird sein wie Donnerhall , wie die Posaunen, die die Stadtmauern von Jericho zum Einsturz brachten. Unsere Botschaft wird die Herzen der Menschen erschüttern, und es werden sich die Rechtgläubigen von den Frevlern scheiden wie die Schafe von den Wölfen. Wir werden den Tempel niederreißen und neu errichten, und dann, das sage ich euch, meine Brüder und Schwestern, dann wird diese Stadt endlich wirklich die Heilige Stadt sein. Dann werden sie endlich vertrieben werden, die gottlosen Frevler, und kein anderer als der Name unseres Herrn Jesus Christus wird innerhalb der Mauern dieser Stadt verehrt werden. Und das Beispiel der Heiligen Stadt Jerusalem wird leuchten über den ganzen Erdkreis, und das Reich des Herrn wird erstehen!«
»Amen!« – »Halleluja!« – »Amen!« – »Halleluja!« – » Gelobt sei der Herr!«
Die begeisterten Rufe wollten nicht abebben. Doch Bruder Stefano trat ein paar Schritte nach vorn und hob beschwichtigend die Hände.
»Ruhig, Brüder und Schwestern, seid ruhig!«, rief er. »Lasst uns hören, was Pater Giacomo uns noch zu sagen hat.«
Augenblicklich wurde es wieder still in der Höhle.
»Brüder! Schwestern! Der Tag des Sieges mag nicht mehr fern sein, doch er ist noch nicht gekommen. Im Gegenteil, schwere Prüfungen stehen uns bevor.« Pater Giacomo blickte ernst von einem zum anderen, als wollte er jeden Einzelnen von ihnen zur Geduld und Besonnenheit mahnen. »Unser Versammlungsort mag noch geheim sein, unsere Gemeinschaft hingegen ist es nicht länger. Der Statthalter hat von uns gehört. Er nennt uns Aufrührer. Er sieht in uns eine Gefahr für sich und die Herrschaft des Sultans. Deshalb hat er seine Bluthunde , die Janitscharen, auf unsere Fährte gehetzt. Erst heute haben sie Wohnungen durchsucht. Wohnungen von Brüdern und Schwestern im Glauben,
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