Die Wesen (German Edition)
1
Herzrasen. Laima Liepa schlug die Augen auf. Was für ein Albtraum! Sie war in einer Höhle. Furchtbare Gefühle hatten sie gepackt. Die Beklemmung ließ nur langsam nach.
Das liebevolle Gesicht ihrer Mutter war über sie gebeugt. Sanft strich sie Laima die Stirn.
Die Hitze in der kleinen Dachwohnung der Jana Seta eins hatte über Nacht kaum nachgelassen.
Ihr Schädel pochte und brachte damit die unangenehme Erinnerung an den gestrigen Tag zurück. An eine Flasche Wein, mit der sie versucht hatte, das nackte Fleisch zu verdrängen. Nichts, gar nichts war mehr an seinem Platz. Die frühere Maschine, Tooms mit ihrer besten Freundin Linda im Bett.
Erst hatte sie geheult. Dann die Flasche Wein getrunken. Sie trank nie. Schon wegen ihres Vaters nicht. Zu viele schlechte Erinnerungen. Ein Déjà-vu. Das Krankenhaus ihrer Mutter, als sie ihren Vater mit einer der Schwestern hinter einem Vorhang erwischte. Die Entscheidung über die Ehe ihrer Eltern sollte Laima mit ihrem Schweigen tragen. Ihre Mutter hatte es zum Schluss selbst entschieden. Es war nicht die erste Frau und das Trinken hatte über die Jahre alles noch schwieriger gemacht. Damals wohnten sie in einem Randbezirk Rigas.
All diese Erinnerungen kamen ihr gestern Abend auf der alten Wehrmauer vor dem Küchenfenster. Sie hatte auf den Turm der Peterskirche gestarrt. Eine seltsame Ruhe hatte dann von ihr Besitz ergriffen. Unter ihr die lautstarken englischen Touristen in den Lokalen. Über ihr die kreischenden Möwen vor dem nicht erlöschenden Himmel der Weißen Nächte. Jeder Sinn, jeder Halt hatte sich aufgelöst. Gleichzeitig wurde alles leise und still.
Ihre Mutter reichte ihr eine dampfende Tasse Tee. Der Duft von Lindenblüten. Die zwei schwarzen Katzen, Filips und Franzene, rollten sich auf der Decke zu ihren Füßen zusammen.
„Gibt es Liebe, Mama?“
„Aber sicher. Ich liebe dich. Die Katzen lieben dich.“
„Ich meine echte Liebe.“
„Ist das keine echte Liebe?“
„Zwischen Mann und Frau meine ich. Nicht nur Sex. Ich denke, es ist alles eine Wunschvorstellung. Wir wünschen uns Liebe und glauben, wir bekommen sie. In Wahrheit bilden wir uns das nur ein.“
„Du solltest deinen Blick nicht nur auf das richten, von dem du gerade glaubst, dass es nicht da ist. Damit verlierst du aus den Augen, was dich gerade in diesem Augenblick umgibt und berührt.“
„Kannst du nicht einfach Ja sagen?“
„Würdest du mir denn glauben?“
Laima lächelte und nahm einen Schluck Tee.
„Warum müssen Mütter einen immer so gut kennen?“
„Weil dieser kleine Dickkopf mir schon seit siebenundzwanzig Jahren an den Nerven zerrt“, sagte sie und wuschelte ihr mit der Hand durch die Haare. „Und das ändert sich so schnell wohl nicht, wie es aussieht.“
Laima genoss die Anwesenheit ihrer Mutter.
„Das Krankenhaus hat schon drei Mal angerufen. Eine Kollegin ist ausgefallen. Ich werde gleich fahren.“
Dies war der einzig heikle Punkt ihrer Beziehung. Weniger von Laimas Seite. Ihre Mutter hatte sich selbst nie verziehen. Als leitende Chefärztin der Notaufnahme eines der größten Krankenhäuser der Stadt, das sie selbst vor dreißig Jahren aufgebaut hatte, war sie unentbehrlich. Ständige Nacht- und Vierundzwanzigstundendienste hatten dazu geführt, dass Laima so manche Nacht mit ihrem Vater in einer Kneipe verbrachte, während andere Kinder längst schliefen. Laima hatte sich damit abgefunden und ihren Frieden gemacht, dass ihre Mutter sich in den Dienst einer größeren Sache gestellt hatte. Ihre Mutter aber war nie darüber hinweggekommen, dass sie nicht genug Zeit für Laima gehabt hatte.
Umso mehr genossen beide die gemeinsamen Wochenenden im Landhaus, das ihre Mutter nach der Scheidung gekauft hatte. Sie pflückten Lindenblüten oder andere Kräuter für Tees und trockneten sie auf dem Dachboden, unter den in der Sonne knackenden Holzschindeln.
„Fahr nur, Mama. Einer muss ja die Welt retten“, sagte sie und lächelte schief.
„Ich liebe dich, mein Mädchen. Vergiss das nie!“
„Ich dich auch, Mama. Von ganzem Herzen.“
Beide umarmten sich und Laima brachte sie zur Tür.
Laima ließ sich auf die Couch sinken. Ihre Hände um die warme Tasse. Sie trank einen Schluck. Die Katzen schnurrten zu ihren Füßen. Sie streckte sich aus. Wie kurz die Couch geworden war. Sie hatte sie ihre ganze Kindheit hindurch begleitet. Das Piepen einer Kurznachricht unterbrach ihre Gedanken. Tooms. Er war ihr nicht hinterhergelaufen.
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