Steinhauer, Franziska
24. Juli, Ultental
Heiko und Helene hörten mit angehaltenem Atem zu, wie der Tod ihre Mutter zu sich holte.
Schon seit Monaten spielten sie nicht mehr draußen im Garten oder auf den Wiesen am Hang. Denn ihre Mutter war der Meinung, sie sollten nicht ohne Aufsicht auf dem weitläufigen Gelände herumtoben, wegen der steilen Abhänge sei das für Kinder ihres Alters zu gefährlich. Obwohl die Geschwister dazu eine völlig andere Meinung hatten, fanden sie sich in Anbetracht der neuen Situation im Hause Gumper mit dieser Entscheidung ab. Sie richteten sich das Wohnzimmer zum Spielen ein.
Zwei gegeneinandergedrehte Stühle, über deren hohe Lehnen sie eine Decke gezogen hatten, bildete, je nach Spiel, eine Höhle, ein Haus oder einen Stall.
Es waren sehr leise Spiele.
Ihre Mutter vertrug weder Toberei noch Streit und Zank.
Die beiden hatten in den vergangenen Monaten gelernt, Rücksicht zu nehmen.
Maria Gumper war geschwächt aus dem Krankenhaus nach Hause zurückgekehrt. Blass und ausgezehrt wirkte sie, erschien den Kindern eigenartig entrückt. Ihr fröhliches Lachen, das sonst zu jeder Zeit über den Hof schallte, war verstummt, und sie weinte nun viel.
Die Geschwister erfuhren durch Gesprächsfetzen, die sie aufschnappten, wenn Frauen aus dem Dorf ins Haus kamen, um nach Maria zu sehen, dass ihre Mutter schwer krank war. Manche tätschelten Heiko und Helene die Köpfe,seufzten dann und warfen sich unheilschwangere Blicke zu, deren Bedeutung den Kindern unklar blieb. Einige murmelten auch, Maria Gumper sei vom Tod gezeichnet. Eine Formulierung, die sich einer Interpretation durch die Geschwister entzog.
Ihr Vater sprach nicht viel. Das hatte er auch früher schon nicht getan, aber nun, da ihre Mutter meist schweigsam und vor sich hin starrend in dem provisorischen Bett unter dem Wohnzimmerfenster lag, schien es den beiden, als sei die Welt um sie herum plötzlich verstummt, ja, als sei das Sprechen gar bei Strafe verboten, denn wurde überhaupt einmal ein Wort gesagt, so nur ganz leise. Selbst untereinander kommunizierten Helene und Heiko zunehmend mit Gesten oder flüsterten möglichst tonlos, was sich durch Zeichensprache nicht ausdrücken ließ.
Jeden Tag kam Tante Berta, die Schwester ihrer Mutter, vorbei, die ihnen das Essen kochte, die Räume putzte oder Staub wischte. Sie hatte den beiden erklärt, es daure nun nicht mehr lange, und ihre Mutter würde friedlich einschlafen. Aus diesem besonderen Schlaf gäbe es kein Erwachen. Das sei normal in solchen Fällen. Gott, erfuhren die Geschwister, habe die Tür in sein Reich für Maria Gumper weit aufgestoßen, und sie bekäme von ihm einen Platz bei den Engeln zugewiesen, weil sie so ein herzensguter Mensch sei.
Tante Berta war auch diejenige, die den Kindern erzählte, ihre Mutter leide an Krebs. Einem bösartigen Krebs. Helene verstand nicht, wie ein Tier einen Menschen so unglaublich krank machen konnte, und auch Heiko hatte nur einmal aufgeschnappt, dass jemand im Dorf an Krebs gestorben sei, wusste allerdings nichts Näheres darüber. Vielleicht, meinte er, vielleicht fräßen dieseKrebse Menschen auf, wie Piranhas, aber sicher war er sich nicht.
Was die beiden jetzt in ihrer Wohnzimmerhöhle hörten, klang jedoch völlig anders als friedliches Einschlafen. Die Geräusche ließen eher auf eine heftige Gegenwehr schließen. Ihre Mutter wollte wohl noch nicht durch das offene Tor gehen.
Die Blicke der Geschwister begegneten sich.
Der Tod hatte sie nicht bemerkt, hatte vergessen, unter die Decke zu sehen.
Wahrscheinlich ging er davon aus, dass sie draußen Abenteuer erlebten, wie früher, und wusste nichts von ihrem neuen lautlosen Spiel. Bestimmt wäre es ihm nicht recht, wenn er entdecken müsste, dass er dabei beobachtet wurde, wie er ihre Mutter holte.
Unter der Decke schlossen sich die Hände der Geschwister fest umeinander. Heiko spürte, wie Helene, zitterte und drückte beruhigend ihre Hand. Der Tod war nicht zu ihnen gekommen. Er hatte sie übersehen.
Als er nach unendlich langen Minuten das Zimmer wieder verließ, erfuhren die Kinder noch etwas anderes: Der Tod sah – zumindest in dem Bereich, den sie von ihrem Versteck aus sehen konnten – wie ein Mensch aus!
Dass noch jemand zugesehen hatte, wie Maria Gumper dem Tod in die Finsternis gefolgt war, ahnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand.
Oktober
11 Jahre und drei Monate später.
„Nun“, Dr. Jürgens zögerte einen Moment, bevor er weitersprach, „ich bin mir nicht sicher, ob
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