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Die Wahlverwandtschaften

Die Wahlverwandtschaften

Titel: Die Wahlverwandtschaften Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johann Wolfgang von Goethe
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lebhafte Wünsche entheiligen können?
    Oder ja, da wir einmal so weit sind, da mein Verhältnis zu Charlotten getrennt werden muß, da du die Meinige sein wirst, warum soll ich es nicht sagen?
    Warum soll ich das harte Wort nicht aussprechen: dies Kind ist aus einem doppelten Ehbruch erzeugt!
    Es trennt mich von meiner Gattin und meine Gattin von mir, wie es uns hätte verbinden sollen.
    Mag es denn gegen mich zeugen, mögen diese herrlichen Augen den deinigen sagen, daß ich in den Armen einer andern dir gehörte; mögest du fühlen, Ottilie, recht fühlen, daß ich jenen Fehler, jenes Verbrechen nur in deinen Armen abbüßen kann!«
    »Horch!« rief er aus, indem er aufsprang und einen Schuß zu hören glaubte, als das Zeichen, das der Major geben sollte.
    Es war ein Jäger, der im benachbarten Gebirg geschossen hatte.
    Es erfolgte nichts weiter; Eduard war ungeduldig.
    Nun erst sah Ottilie, daß die Sonne sich hinter die Berge gesenkt hatte.
    Noch zuletzt blinkte sie von den Fenstern des obern Gebäudes zurück.
    »Entferne dich, Eduard!« rief Ottilie«.
    »O lange haben wir entbehrt, so lange geduldet.
    Bedenke, was wir beide Charlotten schuldig sind.
    Sie muß unser Schicksal entscheiden, laß uns ihr nicht vorgreifen.
    Ich bin die Deine, wenn sie es vergönnt; wo nicht, so muß ich dir entsagen.
    Da du die Entscheidung so nah glaubst, so laß uns erwarten.
    Geh in das Dorf zurück, wo der Major dich vermutet.
    Wie manches kann vorkommen, das eine Erklärung fordert.
    Ist es wahrscheinlich, daß ein roher Kanonenschlag dir den Erfolg seiner Unterhandlungen verkünde?
    Vielleicht sucht er dich auf in diesem Augenblick.
    Er hat Charlotten nicht getroffen, das weiß ich; er kann ihr entgegengegangen sein, denn man wußte, wo sie hin war.
    Wie vielerlei Fälle sind möglich!
    Laß mich!
    Jetzt muß sie kommen.
    Sie erwartet mich mit dem Kinde dort oben«.
    Ottilie sprach in Hast.
    Sie rief sich alle Möglichkeiten zusammen.
    sie war glücklich In Eduards Nähe und fühlte, daß sie ihn jetzt entfernen müsse.
    »Ich bitte, ich beschwöre dich, Geliebter!« rief sie aus, »kehre zurück und erwarte den Major!« »Ich gehorche deinen Befehlen«, rief Eduard, indem er sie erst leidenschaftlich anblickte und sie dann fest in seine Arme schloß.
    Sie umschlang ihn mit den ihrigen und drückte ihn auf das zärtlichste an ihre Brust.
    Die Hoffnung fuhr wie ein Stern, der vom Himmel fällt, über ihre Häupter weg.
    Sie wähnten, sie glaubten einander anzugehören; sie wechselten zum erstenmal entschiedene, freie Küsse und trennten sich gewaltsam und schmerzlich.
    Die Sonne war untergegangen, und es dämmerte schon und duftete feucht um den See.
    Ottilie stand verwirrt und bewegt; sie sah nach dem Berghause hinüber und glaubte Charlottens weißes Kleid auf dem Altan zu sehen.
    Der Umweg war groß am See hin; sie kannte Charlottens ungeduldiges Haaren nach dem Kinde.
    Die Platanen sieht sie gegen sich über, nur ein Wasserraum trennt sie von dem Pfade, der sogleich zu dem Gebäude hinaufführt.
    Mit Gedanken ist sie schon drüben wie mit den Augen.
    Die Bedenklichkeit, mit dem Kinde sich aufs Wasser zu wagen, verschwindet in diesem Drange.
    Sie eilt nach dem Kahn, sie fühlt nicht, daß ihr Herz pocht, daß ihre Füße schwanken, daß ihr die Sinne zu vergehen drohn.
    Sie springt in den Kahn, ergreift das Ruder und stößt ab.
    Sie muß Gewalt brauchen, sie wiederholt den Stoß, der Kahn schwankt und gleitet eine Strecke seewärts.
    Auf dem linken Arme das Kind, in der linken Hand das Buch, in der rechten das Ruder, schwankt auch sie und fällt in den Kahn.
    Das Ruder entfährt ihr nach der einen Seite und, wie sie sich erhalten will, Kind und Buch nach der andern, alles ins Wasser.
    Sie ergreift noch des Kindes Gewand; aber ihre unbequeme Lage hindert sie selbst am Aufstehen.
    Die freie rechte Hand ist nicht hinreichend sich umzuwenden, sich aufzurichten; endlich gelingts, sie zieht das Kind aus dem Wasser, aber seine Augen sind geschlossen, es hat aufgehört zu atmen.
    In dem Augenblick kehrt ihre ganze Besonnenheit zurück, aber um desto größer ist ihr Schmerz.
    Der Kahn treibt fast in der Mitte des Sees, das Ruder schwimmt fern, sie erblickt niemanden am Ufer, und auch was hätte es ihr geholfen, jemanden zu sehen!
    Von allem abgesondert, schwebt sie auf dem treulosen, unzugänglichen Elemente.
    Sie sucht Hülfe bei sich selbst.
    So oft hatte sie von Rettung der Ertrunkenen gehört.
    Noch am Abend ihres Geburtstags

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