Erkenntnis
1. Anfänge
Niamh kommt mit einer Schale voll kleingeschnittenem Obst aus dem Haus und geht durch den Garten zur Sitzecke. Sie stellt die Schale auf den Tisch und setzt sich auf die Liege.
Lächelnd beobachtet sie, wie ihre kleine Tochter einem Schmetterling hinterher läuft.
Keelin ist der lebende Beweis ihrer Liebe zu Aidan. Sie sind eine kleine glückliche Familie und in einigen Monaten wird noch ein weiteres Kind dazu kommen.
Ihre grünen Augen verdunkeln sich trotz des Lächelns. Die dreijährige Keelin ist ihr ganzer Stolz. Die weißblonden Haare hat sie von ihrem Dad geerbt, genau wie die braunen Augen, die im Gegensatz zu seinen allerdings manchmal golden schimmern. Sie ist ein bildhübsches Kind und immer gut gelaunt und doch gibt es ein Problem:
Keelin spricht nicht … Nichts, kein Wort. Das alleine wäre nicht einmal schlimm, aber sie ist nicht einfach nur stumm.
Sie gibt überhaupt keine Töne von sich. Sie hat als Baby weder vor sich hin „gebrabbelt“ noch geweint oder geschrien. Ein Kind, das man nur sieht oder spürt, aber niemals hört.
Die Ärzte stehen vor einem Rätsel. Aber die Kleine versteht alles ...Und noch seltsamer ist es, dass ihre „Sprachlosigkeit“ den Menschen anscheinend nicht, oder erst sehr spät auffällt.
Aidans Mutter ist es erst an Keelins letztem Geburtstag vor sechs Wochen bewusst geworden, obwohl sie ihr Enkelkind mindestens einmal in der Woche sieht. Noch immer ist sie fassungslos und ruft täglich an, um ihnen Adressen von neuen Ärzten und Kliniken zu geben, die Keelin untersuchen sollen. Niamh seufzt und hebt ihre Tochter, die zu ihr gekommen ist, auf ihren Schoß. Sie schiebt Keelin eine halbe Erdbeere in den Mund und lächelt sie an. „Mein kleiner Eala, Mummy wird einen Weg finden, um dir zu helfen. Das verspreche ich dir!“
„Kleiner Eala“, kleiner Schwan, das ist seit der Geburt ihr Kosename für Keelin. Die Kleine kuschelt sich an sie und beginnt zu lächeln. Bevor sie ihre Augen schließt, sieht Niamh noch das kurze goldene Aufleuchten in den Augen ihrer Tochter.
Als Aidan nach Hause kommt, findet er seine Frau und seine Tochter schlafend im Garten. Der hochgewachsene, weißblonde Mann mit den dunklen Augen lehnt sich an den Apfelbaum und betrachtet die beiden lächelnd. Er kann sich ein Leben ohne seine beiden Frauen nicht mehr vorstellen.
Seine wunderschöne Frau ...Sie ist vor fünf Jahren im wahrsten Sinn des Wortes in sein Leben gestolpert.
Er erinnert sich noch genau. Es war ein sonniger Samstag Anfang April. Er war extra früh aufgestanden, um mit seinem neu gekauftem Motorrad eine Spritztour zu seinem Freund zu machen. Von Tipperary bis Limerick waren es etwa 40 Kilometer und das sollte reichen, um sich mit der Maschine vertraut zu machen und eventuelle Mängel zu entdecken.
Gut gelaunt fuhr er los. Kurz hinter Boher stolperte plötzlich eine Person auf die Straße. Erschrocken wich er aus und bremste. Als das Motorrad zum Stehen kam, drehte er sich um und sah zurück. Er sah einen zierlichen Menschen mitten auf der Fahrbahn kauern.
Kurz entschlossen stellte er das Motorrad am Straßenrand ab und eilte zurück. Erst kurz vor seinem Ziel nahm er seinen Helm ab.
„Ist Ihnen etwas passiert? Kann ich Ihnen helfen?“ fragte er besorgt. Als er dann das Geräusch eines nahenden Autos hörte, hob er die Gestalt kurzerhand hoch und trug sie auf den Grasstreifen neben der Straße.
Plötzlich sah er sich mit zwei strahlend grünen Augen konfrontiert. „Mir geht es gut ...Glaube ich ...“ Die Stimme war leise, sanft und eindeutig weiblich.
Vorsichtig ließ er sie runter, sodass sie zum Stehen kam. Viel war nicht von ihr zu erkennen. Eine dicke Jacke, sowie eine Mütze und ein Schal verbargen ihr Äußeres.
Ihr Blick allerdings war so unglaublich intensiv, dass eine heiße Welle durch seinen Körper lief.
„Ist wirklich alles OK? Sie haben mir gerade einen ganz schönen Schrecken eingejagt.“
Ihm war nicht bewusst gewesen, dass er sie immer noch festhielt, bis sie jetzt ihre Mütze abnahm und ihre Haare nach hinten strich, damit sie ihr nicht ins Gesicht hingen.
„Wow!“ entfuhr es ihm angesichts der dunkelroten Haarflut, die ihr bis zur Taille reichte. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht.
„Es tut mir leid, dass ich Sie erschrocken habe. Ich wollte nur die Straße überqueren und bin dann irgendwie gestolpert.“
„Zum Glück ist ja nichts passiert.“ Er musterte sie nachdenklich. „Darf ich fragen, was Sie am frühen Morgen hier ganz alleine
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