Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
Hüttchen aufgefunden wurde und darin ein schon seit ungefähr einem Monat in Verwesung liegender männlicher Leichnam, in Kleidern, welche wenig Aufschluß über den Stand ihres Besitzers geben konnten. Zwei sehr feine Hemden lagen dabei. Das wichtigste Stück war eine Bibel, mit eingehefteten weißen Blättern, die zum Theil vom Verstorbenen beschrieben waren. Er meldet darin den Tag seiner Abreise von Hause (die Heimath aber wird nicht genannt), dann sagt er: Er sei vom Geiste Gottes in eine Wüste getrieben worden, zu beten und zu fasten. Er habe auf seiner Herreise schon sieben Tage gefastet: dann habe er wieder gegessen. Hierauf habe er bei seiner Ansiedelung schon wieder zu fasten angefangen, und zwar so viele Tage. Nun wird jeder Tag mit einem Strich bezeichnet, und es finden sich deren fünf, nach deren Verlauf der Pilger vermuthlich gestorben ist. Noch fand sich ein Brief an einen Pfarrer über eine Predigt, welche der Verstorbene von demselben gehört hatte; allein auch da fehlte die Adresse.« – Zwischen diesem aus dem Extrem der Askese und dem gewöhnlichen aus Verzweiflung entspringenden freiwilligen Tode mag es mancherlei Zwischenstufen und Mischungen geben, welches zwar schwer zu erklären ist; aber das menschliche Gemüth hat Tiefen, Dunkelheiten und Verwickelungen, welche aufzuhellen und zu entfalten, von der äußersten Schwierigkeit ist.
§ 70
Man könnte vielleicht unsere ganze nunmehr beendigte Darstellung Dessen, was ich die Verneinung des Willens nenne, für unvereinbar halten mit der frühem Auseinandersetzung der Nothwendigkeit, welche der Motivation eben so sehr, als jeder andern Gestaltung des Satzes vom Grunde zukommt, und derzufolge die Motive, wie alle Ursachen, nur Gelegenheitsursachen sind, an denen hier der Charakter sein Wesen entfaltet und es mit der Nothwendigkeit eines Naturgesetzes offenbart, weshalb wir dort die Freiheit als liberum arbitrium indifferentiae schlechthin leugneten. Weit entfernt jedoch dieses hier aufzuheben, erinnere ich daran. In Wahrheit kommt die eigentliche Freiheit, d.h. Unabhängigkeit vom Satze des Grundes, nur dem Willen als Ding an sich zu, nicht seiner Erscheinung, deren wesentliche Form überall der Satz vom Grunde, das Element der Nothwendigkeit, ist. Allein der einzige Fall, wo jene Freiheit auch unmittelbar in der Erscheinung sichtbar werden kann, ist der, wo sie Dem, was erscheint, ein Ende macht, und weil dabei dennoch die bloße Erscheinung, sofern sie in der Kette der Ursachen ein Glied ist, der belebte Leib, in der Zeit, welche nur Erscheinungen enthält, fortdauert, so steht der Wille, der sich durch diese Erscheinung manifestirt, alsdann mit ihr im Widerspruch, indem er verneint was sie ausspricht. In solchem Fall sind z.B. die Genitalien, als Sichtbarkeit des Geschlechtstriebes, da und gesund; es wird aber dennoch, auch im Innersten, keine Geschlechtsbefriedigung gewollt: und der ganze Leib ist nur sichtbarer Ausdruck des Willens zum Leben, und dennoch wirken die diesem Willen entsprechenden Motive nicht mehr: ja, die Auflösung des Leibes, das Ende des Individuums und dadurch die größte Hemmung des natürlichen Willens, ist vollkommen und erwünscht. Von diesem realen Widerspruch nun, der aus dem unmittelbaren Eingreifen der keine Nothwendigkeit kennenden Freiheit des Willens an sich in die Nothwendigkeit seiner Erscheinung hervorgeht, ist der Widerspruch zwischen unsern Behauptungen von der Nothwendigkeit der Bestimmung des Willens durch die Motive, nach Maaßgabe des Charakters, einerseits, und von der Möglichkeit der gänzlichen Aufhebung des Willens, wodurch die Motive machtlos werden, andererseits, nur die Wiederholung in der Reflexion der Philosophie. Der Schlüssel zur Vereinigung dieser Widersprüche liegt aber darin, daß der Zustand, in welchem der Charakter der Macht der Motive entzogen ist, nicht unmittelbar vom Willen ausgeht, sondern von einer veränderten Erkenntnißweise. So lange nämlich die Erkenntniß keine andere, als die im principio individuationis befangene, dem Satz vom Grunde schlechthin nachgehende ist, ist auch die Gewalt der Motive unwiderstehlich: wann aber das principum individuationis durchschaut, die Ideen, ja das Wesen der Dinge an sich, als der selbe Wille in Allem, unmittelbar erkannt wird, und aus dieser Erkenntniß ein allgemeines Quietiv des Wollens hervorgeht; dann werden die einzelnen Motive unwirksam, weil die ihnen entsprechende Erkenntnißweise, durch eine ganz andere verdunkelt,
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