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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Titel: Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Manuskript, an dem ich ein Jahr gearbeitet hatte, und meinte mich zu sichern, indem ich sofortige Vorausbezahlung für zehntausend Exemplare verlangte; bis der Scheck überwiesen war, deckte er kaum, was vor einer Woche die Frankierung des Pakets gekostet; man zahlte in der Straßenbahn mit Millionen, Lastwagen karrten das Papiergeld von der Reichsbank zu den Banken, und vierzehn Tage später fand man Hunderttausendmarkscheine in der Gosse: ein Bettler hatte sie verächtlich weggeworfen. Ein Schuhsenkel kostete mehr als vordem ein Schuh, nein, mehr als ein Luxusgeschäft mit zweitausend Paar Schuhen, ein zerbrochenes Fenster zu reparieren mehr als früher das ganze Haus, ein Buch mehr als vordem die Druckerei mit ihren Hunderten Maschinen. Für hundert Dollar konnte man reihenweise sechsstöckige Häuser am Kurfürstendamm kaufen. Fabriken kosteten umgerechnet nicht mehr als früher ein Schubkarren. Halbwüchsige Jungen, die eine Kiste Seife im Hafen vergessen gefunden, sausten monatelang in Autos herum und lebten wie Fürsten, indem sie jeden Tag ein Stück verkauften, während ihre Eltern, einstmals reiche Leute, als Bettler herumschlichen. Austräger gründeten Bankhäuser und spekulierten in allen Valuten. Über ihnen allen erhob sich gigantisch die Gestalt des Großverdieners Stinnes. Er kaufte, indem er unter Ausnutzung des Marksturzes seinen Kredit erweiterte, was nur zu kaufen war, Kohlengruben und Schiffe, Fabriken und Aktienpakete, Schlösser und Landgüter, und alles eigentlich mit Null, weil jeder Betrag, jede Schuld zu Null wurde. Bald war ein Viertel Deutschlands in seiner Hand, und perverserweise jubelte ihm das Volk, das sich in Deutschland immer am sichtbaren Erfolg berauscht, wie einem Genius zu. Die Arbeitslosen standen zu Tausenden herum und ballten die Fäuste gegen die Schieber und Ausländer in den Luxusautomobilen, die einen ganzen Straßenzug aufkauften wie eine Zündholzschachtel; jeder, der nur lesen und schreiben konnte, handelte und spekulierte, verdiente und hatte dabei das geheime Gefühl, daß sie alle sich betrogen und betrogen wurden von einer verborgenen Hand, die dieses Chaos sehr wissentlich inszenierte, um den Staat von seinen Schulden und Verpflichtungen zu befreien. Ich glaube Geschichte ziemlich gründlich zu kennen, aber meines Wissens hat sie nie eine ähnliche Tollhauszeit in solchen riesigen Proportionen produziert. Alle Werte waren verändert und nicht nur im Materiellen; die Verordnungen des Staates wurden verlacht, keine Sitte, keine Moral respektiert, Berlin verwandelte sich in das Babel der Welt. Bars, Rummelplätze und Schnapsbuden schossen auf wie die Pilze. Was wir in Österreich gesehen, erwies sich nur als mildes und schüchternes Vorspiel dieses Hexensabbats, denn die Deutschen brachten ihre ganze Vehemenz und Systematik in die Perversion. Den Kurfürstendamm entlang promenierten geschminkte Jungen mit künstlichen Taillen und nicht nur Professionelle; jeder Gymnasiast wollte sich etwas verdienen, und in den verdunkelten Bars sah man Staatssekretäre und hohe Finanzleute ohne Scham betrunkene Matrosen zärtlich hofieren. Selbst das Rom des Sueton hat keine solche Orgien gekannt wie die Berliner Transvestitenbälle, wo Hunderte von Männern in Frauenkleidern und Frauen in Männerkleidung unter den wohlwollenden Blicken der Polizei tanzten. Eine Art Irrsinn ergriff im Sturz aller Werte gerade die bürgerlichen, in ihrer Ordnung bisher unerschütterlichen Kreise. Die jungen Mädchen rühmten sich stolz, pervers zu sein; mit sechzehn Jahren noch der Jungfräulichkeit verdächtig zu sein, hätte damals in jeder Berliner Schule als Schmach gegolten, jede wollte ihre Abenteuer berichten können und je exotischer, desto besser. Aber das Wichtigste an dieser pathetischen Erotik war ihre grauenhafte Unechtheit. Im Grunde war die deutsche Orgiastik, die mit der Inflation ausbrach, nur fiebriges Nachäffertum; man sah diesen jungen Mädchen aus den guten bürgerlichen Familien an, daß sie lieber einen einfachen Scheitel getragen hätten als den glattgestrichenen Männerkopf, lieber Apfelkuchen mit Schlagsahne gelöffelt, als die scharfen Schnäpse getrunken; überall war unverkennbar, daß dem ganzen Volke diese Überhitztheit unerträglich war, dieses tägliche nervenzerreißende Ausgerecktwerden auf dem Streckseile der Inflation, und daß die ganze kriegsmüde Nation sich eigentlich nur nach Ordnung, Ruhe, nach ein bißchen Sicherheit und Bürgerlichkeit sehnte. Und im

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