Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Ich wartete mit ihnen. Und dann kam es plötzlich. Aus einer Seitengasse marschierte oder eigentlich lief in hastigem Gleichschritt eine Gruppe junger Leute, gut geordnet, die in geübtem Takt ein Lied sangen, dessen Text ich nicht kannte – später wußte ich, daß es die ›Giovinezza‹ war. Und schon waren sie, Stöcke schwingend, in ihrem Laufschritt vorbei, ehe die hundertfach überlegene Masse Zeit gehabt hatte, sich auf den Gegner zu stürzen. Der verwegene und wirklich mutige Durchmarsch dieser kleinen organisierten Gruppe war so rasch erfolgt, daß sich die andern der Provokation erst bewußt wurden, als sie ihrer Gegner nicht mehr habhaft werden konnten. Ärgerlich scharten sie sich jetzt zusammen und ballten die Fäuste, aber es war zu spät. Der kleine Sturmtrupp war nicht mehr einzuholen.
Immer haben optische Eindrücke etwas Überzeugendes. Zum erstenmal wußte ich jetzt, daß dieser sagenhafte, mir kaum bekannte Faschismus etwas Reales sei, etwas sehr gut Geleitetes, und daß er entschlossene, kühne junge Menschen für sich fanatisierte. Ich konnte meinen älteren Freunden in Florenz und Rom seitdem nicht mehr beipflichten, die mit einem verächtlichen Achselzucken diese jungen Menschen als eine ›gemietete Bande‹ abtaten und ihren ›Fra Diavolo‹ verspotteten. Aus Neugier kaufte ich mir einige Nummern des ›Popolo d’Italia‹ und spürte an dem scharfen, lateinisch knappen, plastischen Stil Mussolinis die gleiche Entschlossenheit wie bei dem Sturmlauf jener jungen Leute über den Markusplatz. Selbstverständlich konnte ich die Dimensionen nicht ahnen, die dieser Kampf schon ein Jahr später annehmen sollte. Aber daß ein Kampf hier und überall bevorstand und daß unser Friede nicht der Friede war, war mir von dieser Stunde bewußt.
Dies war für mich die erste Warnung, daß unter der scheinbar beruhigten Oberfläche unser Europa voll gefährlicher Unterströmungen war. Die zweite ließ nicht lange auf sich warten. Ich hatte mich, von der Lust des Reisens neuerdings angereizt, entschlossen, im Sommer nach Westerland an der deutschen Nordsee zu fahren. Ein Besuch in Deutschland hatte damals für einen Österreicher noch etwas Bestärkendes. Die Mark hatte sich gegen unsere verkümmerte Krone bisher großartig gehalten, der Genesungsprozeß schien in vollstem Gange. Pünktlich auf die Minute die Züge, sauber und blank die Hotels, überall rechts und links vom Gleise neue Häuser, neue Fabriken, überall die tadellose, lautlose Ordnung, die man im Vorkrieg gehaßt und im Chaos wieder schätzengelernt. Eine gewisse Spannung lag freilich in der Luft, denn das ganze Land wartete, ob die Verhandlungen in Genua und Rapallo, die ersten, bei denen Deutschland als Gleichberechtigter neben den vormals feindlichen Mächten saß, die erhoffte Erleichterung der Kriegslasten oder zumindest eine schüchterne Geste wirklicher Verständigung bringen würden. Der Leiter dieser in der Geschichte Europas so denkwürdigen Verhandlungen war niemand anderer als mein alter Freund Rathenau. Sein genialer Organisationsinstinkt hatte sich schon während des Krieges großartig bewährt; gleich in der ersten Stunde hatte er die schwächste Stelle der deutschen Wirtschaft erkannt, an der sie später auch den tödlichen Stoß empfing: die Rohstoffversorgung, und rechtzeitig hatte er (auch hier die Zeit vorausnehmend) die ganze Wirtschaft zentral organisiert. Als es dann nach dem Kriege galt, einen Mann zu finden, der – au pair den Klügsten und Erfahrensten unter den Gegnern – diesen als deutscher Außenminister diplomatisch entgegentreten konnte, fiel die Wahl selbstverständlich auf ihn.
Zögernd rief ich ihn in Berlin an. Wie einen Mann behelligen, während er das Schicksal der Zeit formte? »Ja, es ist schwer«, sagte er mir am Telephon, »auch die Freundschaft muß ich jetzt dem Dienst aufopfern.« Aber mit seiner außerordentlichen Technik, jede Minute auszunutzen, fand er sofort die Möglichkeit eines Zusammenseins. Er habe ein paar Visitenkarten bei den verschiedenen Gesandtschaften abzuwerfen, und da er vom Grunewald eine halbe Stunde im Auto dazu herumfahren müsse, sei es am einfachsten, ich käme zu ihm und wir plauderten dann diese halbe Stunde im Auto. Tatsächlich war seine geistige Konzentrationsfähigkeit, seine stupende Umschalteleichtigkeit von einer Materie zur andern derart vollkommen, daß er jederzeit im Auto wie in der Bahn ebenso präzis und profund sprechen konnte wie in seinem Zimmer.
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