Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
ihn nicht stolz – seine Meinung, daß das Barbarische, daß der elementare Vernichtungstrieb in der menschlichen Seele unausrottbar sei, auf das entsetzlichste bestätigt. Vielleicht werde in den kommenden Jahrhunderten eine Form gefunden werden, wenigstens im Gemeinschaftsleben der Völker diese Instinkte niederzuhalten; im täglichen Tage aber und in der innersten Natur bestünden sie als unausrottbare und vielleicht notwendige spannungserhaltende Kräfte. Mehr noch in diesen seinen letzten Tagen beschäftigte ihn das Problem des Judentums und dessen gegenwärtige Tragödie; hier wußte der wissenschaftliche Mensch in ihm keine Formel und sein luzider Geist keine Antwort. Er hatte kurz vorher seine Studie über Moses veröffentlicht, in der er Moses als einen Nichtjuden, als einen Ägypter darstellte, und er hatte mit dieser wissenschaftlich kaum fundierbaren Zuweisung die frommen Juden ebensosehr wie die nationalbewußten gekränkt. Nun tat es ihm leid, dieses Buch gerade inmitten der grauenhaftesten Stunde des Judentums publiziert zu haben, »jetzt, da man ihnen alles nimmt, nehme ich ihnen noch ihren besten Mann«. Ich mußte ihm recht geben, daß jeder Jude jetzt siebenmal empfindlicher geworden war, denn selbst inmitten dieser Welttragödie waren sie die eigentlichen Opfer, überall die Opfer, weil verstört schon vor dem Schlag, überall wissend, daß alles Schlimme sie zuerst und siebenfach betraf und daß der haßwütigste Mensch aller Zeiten gerade sie erniedrigen und jagen wollte bis an den letzten Rand der Erde und unter die Erde. Woche für Woche, Monat für Monat kamen immer mehr Flüchtlinge, und immer waren sie noch ärmer und verstörter von Woche zu Woche als die vor ihnen gekommenen. Die ersten, die am raschesten Deutschland und Österreich verlassen, hatten noch ihre Kleider, ihre Koffer, ihren Hausrat retten können und manche sogar etwas Geld. Aber je länger einer auf Deutschland vertraut hatte, je schwerer er sich von der geliebten Heimat losgerissen, um so härter war er gezüchtigt worden. Erst hatte man den Juden ihre Berufe genommen, ihnen den Besuch der Theater, der Kinos, der Museen verboten und den Forschern die Benutzung der Bibliotheken: sie waren geblieben aus Treue oder aus Trägheit, aus Feigheit oder aus Stolz. Lieber wollten sie in der Heimat erniedrigt sein als in der Fremde sich als Bettler erniedrigen. Dann hatte man ihnen die Dienstboten genommen und die Radios und Telephone aus den Wohnungen, dann die Wohnungen selbst, dann ihnen den Davidstern zwangsweise angeheftet; jeder sollte sie wie Leprakranke schon auf der Straße als Ausgestoßene, als Verfemte erkennen, meiden und verhöhnen. Jedes Recht wurde ihnen entzogen, jede seelische, jede körperliche Gewaltsamkeit mit spielhafter Lust an ihnen geübt, und für jeden Juden war das alte russische Volkssprichwort plötzlich grausame Wahrheit geworden: ›Vor dem Bettelsack und dem Gefängnis ist niemand sicher.‹ Wer nicht ging, den warf man in ein Konzentrationslager, wo deutsche Zucht auch den Stolzesten mürbe machte, und stieß ihn dann ausgeraubt mit einem einzigen Anzug und zehn Mark in der Tasche aus dem Lande, ohne zu fragen, wohin. Und dann standen sie an den Grenzen, dann bettelten sie bei den Konsulaten und fast immer vergeblich, denn welches Land wollte Ausgeplünderte, wollte Bettler? Nie werde ich vergessen, welch Anblick sich mir bot, als ich einmal in London in ein Reisebüro geriet; es war vollgepfropft mit Flüchtlingen, fast alle Juden, und alle wollten sie irgendwohin. Gleichviel, in welches Land, ins Eis des Nordpols oder in den glühenden Sandkessel der Sahara, nur fort, nur weiter, denn die Aufenthaltsbewilligung war abgelaufen, man mußte weiter, weiter mit Frau und Kind unter fremde Sterne, in fremde Sprachwelt, unter Menschen, die man nicht kannte und die einen nicht wollten. Ich traf dort einen einstmals sehr reichen Industriellen aus Wien, gleichzeitig einer unserer intelligentesten Kunstsammler; ich erkannte ihn zuerst nicht, so grau, so alt, so müde war er geworden. Schwach klammerte er sich mit beiden Händen an den Tisch. Ich fragte ihn, wohin er wollte. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Wer fragt denn heute nach unserem Willen? Man geht, wohin man einen noch läßt. Jemand hat mir erzählt, daß man hier vielleicht nach Haiti oder San Domingo ein Visum bekommen kann.« Mir stockte das Herz; ein alter ausgemüdeter Mann mit Kindern und Enkeln, der zittert vor Hoffnung in ein Land zu
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