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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Titel: Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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überwunden, die Krankheit, das Alter, das Exil, und zum erstenmal strömte jetzt die in den langen Jahren des Kampfes zurückgestaute Güte seines Wesens frei von ihm aus. Nur milder hatte ihn das Alter gemacht, nur nachsichtiger die überstandene Prüfung. Manchmal fand er jetzt zärtliche Gesten, die ich vordem nie an dem Zurückhaltenden gekannt; er legte einem den Arm um die Schulter, und hinter der blitzenden Brille blickte wärmer das Auge einen an. Immer hatte in all den Jahren ein Gespräch mit Freud für mich zu den höchsten geistigen Genüssen gehört. Man lernte und bewunderte zugleich, man fühlte sich mit jedem Wort verstanden von diesem großartig Vorurteilslosen, den kein Geständnis erschreckte, keine Behauptung erregte, und für den der Wille, andere zum Klarsehen, zum Klarfühlen zu erziehen, längst instinktiver Lebenswille geworden war. Aber niemals habe ich das Unersetzbare dieser langen Gespräche dankbarer empfunden als in jenem dunklen Jahr, dem letzten seines Lebens. Im Augenblick, da man in sein Zimmer trat, war der Wahnsinn der äußeren Welt gleichsam abgetan. Das Grausamste wurde abstrakt, das Verworrenste klar, das Zeitlich-Aktuelle ordnete sich demütig ein in die großen zyklischen Phasen. Zum erstenmal erlebte ich den wahrhaft Weisen, den über sich selbst erhobenen, der auch Schmerz und Tod nicht mehr als persönliches Erlebnis empfindet, sondern als ein überpersönliches Objekt der Betrachtung, der Beobachtung: sein Sterben war nicht minder eine moralische Großtat als sein Leben. Freud litt damals schon schwer an der Krankheit, die ihn uns bald nehmen sollte. Es machte ihm sichtlich Mühe, mit seiner Gaumenplatte zu sprechen, und man war eigentlich beschämt über jedes Wort, das er einem gewährte, weil das Artikulieren ihm Anstrengung verursachte. Aber er ließ einen nicht; es bedeutete besonderen Ehrgeiz für seine stählerne Seele, den Freunden zu zeigen, daß sein Wille noch stärker geblieben als die niederen Quälereien, die ihm sein Körper schuf. Den Mund verzerrt von Schmerz, schrieb er an seinem Schreibtisch bis zu den letzten Tagen, und selbst wenn ihm nachts das Leiden den Schlaf – seinen herrlich festen, gesunden Schlaf, der achtzig Jahre die Urquelle seiner Kraft gewesen – zermarterte, verweigerte er Schlafmittel und jede betäubende Injektion. Nicht für eine einzige Stunde wollte er die Helligkeit seines Geistes durch solche Linderungen abdämpfen lassen; lieber leiden und wachsam bleiben, lieber unter Qualen denken als nicht denken, Heros des Geistes bis zum letzten, allerletzten Augenblick. Es war ein furchtbarer Kampf und immer großartiger, je länger er dauerte. Von einem zum andern Male warf der Tod seinen Schatten deutlicher über sein Antlitz. Er höhlte ihm die Wangen, er meißelte die Schläfen aus der Stirn, er zerrte den Mund ihm schief, er hemmte die Lippe im Wort: nur gegen das Auge vermochte der finstere Würger nichts, gegen diesen uneinnehmbaren Wachtturm, von dem der heroische Geist in die Welt blickte: das Auge und der Geist, sie blieben klar bis zum letzten Augenblick. Einmal, bei einem meiner letzten Besuche, nahm ich Salvador Dali mit, den meiner Meinung nach begabtesten Maler der neuen Generation, der Freud unermeßlich verehrte, und während ich mit Freud sprach, zeichnete er eine Skizze. Ich habe sie Freud nie zu zeigen gewagt, denn hellsichtig hatte Dali schon den Tod in ihm gebildet.
    Immer grausamer wurde dieser Kampf des stärksten Willens, des durchdringendsten Geistes unserer Zeit gegen den Untergang; erst als er selber klar erkannte, er, dem Klarheit von je die höchste Tugend des Denkens gewesen, daß er nicht werde weiterschreiben, weiterwirken können, gab er wie ein römischer Held dem Arzt Erlaubnis, dem Schmerz ein Ende zu bereiten. Es war der großartige Abschluß eines großartigen Lebens, ein Tod, denkwürdig selbst inmitten der Hekatomben von Toten in dieser mörderischen Zeit. Und als wir Freunde seinen Sarg in die englische Erde senkten, wußten wir, daß wir das Beste unserer Heimat ihr hingegeben.

    Ich hatte in jenen Stunden mit Freud oftmals über das Grauen der hitlerischen Welt und des Krieges gesprochen. Er war als menschlicher Mensch tief erschüttert, aber als Denker keineswegs verwundert über diesen fürchterlichen Ausbruch der Bestialität. Immer habe man ihn, sagte er, einen Pessimisten gescholten, weil er die Übermacht der Kultur über die Triebe geleugnet habe; nun sehe man – freilich mache es

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