Alles Land - Roman
Kein Horizont. Der Wind treibt Schnee über den Boden wie einen Schwarm kleiner Tiere, von denen eines dem anderen folgt. Am Ende gehen sie über ins stumpfe, leere Weiß des Himmels.
Uns stört der Schnee nicht, die Skistöcke ragen aus dem Treiben heraus. Aber für die Hunde ist es eine Quälerei. Ihr Fell längst weiß gefroren, manchmal schnappen sie im Laufen nacheinander und nach den Schlittenleinen, dann sind ihre Schnauzen zu sehen und die von Schnee verklebten Augen. Starker Südwest, zum Glück haben wir ihn im Rücken, der Wind treibt uns vor sich her. Die Flocken wirbeln herum, umzingeln Schlitten und Hunde, um sich vor uns wieder zu vereinen. Wir sind kein Hindernis.
Die Flocken haben es so eilig, als hätten auch sie ein Ziel. Sie werden vor uns dort sein.
Unter dem Schneefegen ist kein fester Boden zu erkennen, vielleicht gibt es keinen mehr. Es hilft nichts, an die Spalten zu denken. Vor achtundzwanzig Stunden sind wir aufgebrochen, und noch immer ist es hell. Seither fahren wir auf dem Inlandeis, in der Wohnung der bösen Geister, wie die Grönländer es nennen.
Was werden wir finden? Beim Warten auf dem Schiff erzählte Wegener von Scott, wie man ihn und seine Leute
entdeckte, eine Tagesreise vor dem rettenden Depot. Bis zum Ende trugen die Männer ihre Gesteinsproben mit sich, die Steinkohle mit den Pflanzenabdrücken. Man fand sie unter ihnen, im Schutz ihrer Körper.
Wer sich nicht mit jeder Faser daran klammert, heil zurückzukehren, könnte hier wohl vom Verstand kommen. Wir fahren ohne Pause, nach Schlaf ist keinem zumute. Die letzten Felsen sind verschwunden. Unter uns kilometerdickes Eis, Wegener hat es selbst gemessen.
Dies ist wahrhaftig der einsamste Ort der Welt.
Dann der dunkle Fleck in der Ferne. Ein Schatten, wie sich im Näherkommen zeigt, der auf dem Schneefegen liegt wie auf festem Land. Wir fahren jetzt dicht beieinander.
Lange gelingt es uns nicht auszumachen, was den Schatten wirft. Keiner sagt ein Wort. Erst als wir langsamer werden, gibt es sich zu erkennen: Zwei Skier stecken gekreuzt im Firn, dazwischen ein zersplitterter Skistock. Sobald wir stehen, stürzen sich die Hunde auf das Leder ihrer Geschirre und fressen es auf.
Die Alfonsinischen Tafeln
Alfred Wegener hatte mehr Geschwister, als einem Menschen zu wünschen ist. Sie standen um ihn herum und schauten ihn an, sie stießen sich in die Seite und zeigten auf ihn, einige griffen schon über den aus Weiden geflochtenen Rand der Wiege und wollten ihn kneifen, aus Liebe.
Nur mit Mühe gelang es seiner Mutter, die Kinder zurückzuhalten. Vierundzwanzig Stunden hatte die Geburt gedauert, einen ganzen Tag. Anna Wegener war eine kaum zu erschütternde Frau, aber der Versuch, diese Horde zu bändigen, brachte sie an den Rand ihrer Kräfte.
Die Hebamme hatte Mutter und Kind für einen Moment allein gelassen, um den Bottich hinunter in die Waschküche zu bringen, auch sie erschöpft von der langen Arbeit. Beim Aufstehen war ihr auf einmal schwindelig geworden, und sie fror vor Müdigkeit. Es war zu kalt hier drin, zu kalt für ein Geburtszimmer. Sie hatte all das weiße Leinen zusammengerafft, die Laken und Tücher, und dann von außen die Zimmertür nicht wieder verschlossen.
Die Kinder hatten keinen Augenblick gezögert. Kaum dass die Hebamme auf der Kellerstiege verschwunden war, schlüpften sie schon hinein, eins nach dem anderen. Sie brachten mit, was draußen war und was in den letzten
vierundzwanzig Stunden hier drinnen keine Rolle gespielt hatte, ebenso wenig wie der Wechsel von Tag und Nacht.
Vor der Tür war große Pause, dort war Montag, es war der erste November des Jahres 1880. Draußen war Allerheiligen, ein Feiertag, der in Berlin, Hauptstadt des Königreichs Preußen, nicht begangen wurde. Kein Grund, die Schule ausfallen zu lassen. Die Kinder waren wie jeden Morgen zum Unterricht gegangen. Die Mutter hatte sie rufen gehört, am Morgen nach dieser endlos langen Nacht, dann war es die ersten Schulstunden lang still geblieben, und nun hatte drüben der Gong geschlagen. Die Kinder verbrachten ihre große Pause hier, bei ihrem neuen Bruder.
Es waren erheblich zu viele. Zu den vier leiblichen waren die anderen Geschwister zu zählen, zwei Dutzend sicherlich, vom Oberprimaner bis hinunter zu denen, die erst seit Kurzem bei ihnen waren. Lange, blasse Träumer ebenso wie dicke Landkinder mit vor Fröhlichkeit glänzenden Augen. Alles Knaben, alle hatten sie kurz rasiertes Haar und liefen immerzu
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