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Die Welt von Gestern

Die Welt von Gestern

Titel: Die Welt von Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Versailles die Möglichkeit eines dauernden Friedens verraten; die Völker erinnerten sich zu deutlich, wie schamlos man sie um die Versprechungen der Abrüstung, der Abschaffung der Geheimdiplomatie betrogen. Im Grunde hatte man 1939 vor keinem einzigen der Staatsmänner Respekt, und niemand vertraute ihnen gläubig sein Schicksal an. Der kleinste französische Straßenarbeiter spottete über Daladier, in England war seit München – ›peace for our time!‹ – jedes Vertrauen in die Weitsicht Chamberlains geschwunden, in Italien, in Deutschland sahen die Massen voll Angst auf
Mussolini und Hitler: wohin wird er uns wieder treiben? Freilich, man konnte sich nicht wehren, es ging um das Vaterland: so nahmen die Soldaten das Gewehr, so ließen die Frauen ihre Kinder ziehen, aber nicht mehr wie einst in dem unverbrüchlichen Glauben, das Opfer sei unvermeidlich gewesen. Man gehorchte, aber man jubelte nicht. Man ging an die Front, aber man träumte nicht mehr, ein Held zu sein; schon fühlten die Völker und die einzelnen, daß sie nur Opfer waren entweder irdischer, politischer Torheit oder einer unfaßbaren und böswilligen Schicksalsgewalt.
    Und dann, was wußten 1914, nach fast einem halben Jahrhundert des Friedens, die großen Massen vom Kriege? Sie kannten ihn nicht, sie hatten kaum je an ihn gedacht. Er war eine Legende, und gerade die Ferne hatte ihn heroisch und romantisch gemacht. Sie sahen ihn immer noch aus der Perspektive der Schullesebücher und der Bilder in den Galerien: blendende Reiterattacken in blitzblanken Uniformen, der tödliche Schuß jeweils großmütig mitten durchs Herz, der ganze Feldzug ein schmetternder Siegesmarsch – »Weihnachten sind wir wieder zu Hause«, riefen im August 1914 die Rekruten lachend den Müttern zu. Wer in Dorf und Stadt erinnerte sich noch an den ›wirklichen‹ Krieg? Bestenfalls ein paar Greise, die 1866, gegen Preußen, den Bundesgenossen von diesmal, gekämpft, und was für ein geschwinder, unblutiger, ferner Krieg war das gewesen, ein Feldzug von drei Wochen und ohne viel Opfer zu Ende, ehe man erst Atem geholt! Ein rascher Ausflug ins Romantische, ein wildes und männliches Abenteuer – so malte sich der Krieg 1914 in der Vorstellung des einfachen Mannes, und die jungen Menschen hatten sogar ehrliche Angst, sie könnten das Wundervoll-Erregende in ihrem Leben versäumen; deshalb drängten sie ungestüm zu den Fahnen, deshalb jubelten und sangen sie in den Zügen, die sie zur Schlachtbank
führten, wild und fiebernd strömte die rote Blutwelle durch die Adern des ganzen Reichs. Die Generation von 1939 aber kannte den Krieg. Sie täuschte sich nicht mehr. Sie wußte, daß er nicht romantisch war, sondern barbarisch. Sie wußte, daß er Jahre und Jahre dauern würde, unersetzliche Spanne des Lebens. Sie wußte, daß man nicht mit Eichenlaub und bunten Bändern geschmückt dem Feind entgegenstürmte, sondern verlaust und halb verdurstet wochenlang in Gräben und Quartieren lungerte, daß man zerschmettert und verstümmelt wurde aus der Ferne, ohne dem Gegner je ins Auge gesehen zu haben. Man kannte im voraus aus den Zeitungen, aus den Kinos die neuen technisch-teuflischen Vernichtungskünste, man wußte, daß die riesigen Tanks auf ihrem Weg den Verwundeten zermalmten und die Aeroplane Frauen und Kinder in ihren Betten zerschmetterten, man wußte, daß ein Weltkrieg 1939 dank seiner seelenlosen Maschinisierung tausendmal gemeiner, bestialischer, unmenschlicher sein würde als alle früheren Kriege der Menschheit. Kein einziger der Generation von 1939 glaubte mehr an eine von Gott gewollte Gerechtigkeit des Krieges, und schlimmer: man glaubte nicht einmal mehr an die Gerechtigkeit und Dauerhaftigkeit des Friedens, den er erkämpfen sollte. Denn man erinnerte sich zu deutlich noch an alle die Enttäuschungen, die der letzte gebracht: Verelendung statt Bereicherung, Verbitterung statt Befriedigung, Hungersnot, Geldentwertung, Revolten, Verlust der bürgerlichen Freiheit, Versklavung an den Staat, eine nervenzerstörende Unsicherheit, das Mißtrauen aller gegen alle.
    Das schuf den Unterschied. Der Krieg von 1939 hatte einen geistigen Sinn, es ging um die Freiheit, um die Bewahrung eines moralischen Guts; und um einen Sinn zu kämpfen, macht den Menschen hart und entschlossen. Der Krieg von 1914 dagegen wußte nichts von den Wirklichkeiten, er diente noch
einem Wahn, dem Traum einer besseren, einer gerechten und friedlichen Welt. Und nur der Wahn, nicht das Wissen

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