Die Welt von Gestern
Landhause Verhaerens war, herrschte die gleiche Sorglosigkeit. Die Urlaubsfreudigen lagen unter ihren farbigen Zelten am Strande oder badeten, die Kinder ließen Drachen steigen, vor den Kaffeehäusern tanzten die jungen Leute auf der Digue. Alle denkbaren Nationen fanden sich friedlich zusammen, man hörte insbesondere viel deutsch sprechen, denn wie alljährlich entsandte das nahe Rheinland seine sommerlichen Feriengäste am liebsten an den belgischen Strand. Die einzige Störung kam von den Zeitungsjungen, die, um den Verkauf zu fördern, die drohenden Überschriften der Pariser Blätter laut ausbrüllten: »L'Autriche provoque la Russie«, »L'Allemagne prépare la mobilisation«. Man sah, wie sich die Gesichter der Leute, wenn sie die Zeitungen kauften, verdüsterten, aber immer bloß für ein paar Minuten. Schließlich kannten wir diese diplomatischen Konflikte schon seit Jahren; sie waren
immer in letzter Stunde, bevor es ernst wurde, glücklich beigelegt worden. Warum nicht auch diesmal? Eine halbe Stunde später sah man dieselben Leute schon wieder vergnügt prustend im Wasser plätschern, die Drachen stiegen, die Möwen flatterten, und die Sonne lachte hell und warm über dem friedlichen Land.
Aber die schlimmen Nachrichten häuften sich und wurden immer bedrohlicher. Erst das Ultimatum Österreichs an Serbien, die ausweichende Antwort darauf, Telegramme zwischen den Monarchen und schließlich die kaum mehr verborgenen Mobilisationen. Es hielt mich nicht mehr länger in dem engen, abgelegenen Ort. Ich fuhr jeden Tag mit der kleinen elektrischen Bahn nach Ostende hinüber, um den Nachrichten näher zu sein; und sie wurden immer schlimmer. Noch badeten die Leute, noch waren die Hotels voll, noch drängten sich auf der Digue promenierende, lachende, schwatzende Sommergäste. Aber zum erstenmal schob sich etwas Neues dazwischen. Plötzlich sah man belgische Soldaten auftauchen, die sonst nie den Strand betraten. Maschinengewehre wurden – eine sonderbare Eigenheit der belgischen Armee – von Hunden auf kleinen Wagen gezogen.
Ich saß damals in einem Café mit einigen belgischen Freunden zusammen, einem jungen Maler und dem Dichter Crommelynck. Wir hatten den Nachmittag bei James Ensor verbracht, dem größten modernen Maler Belgiens, einem sehr sonderbaren, einsiedlerischen und verschlossenen Mann, der viel stolzer war auf die kleinen schlechten Polkas und Walzer, die er für Militärkapellen komponierte, als auf seine phantastischen, in schimmernden Farben entworfenen Gemälde. Er hatte uns seine Werke gezeigt, eigentlich ziemlich widerwillig, denn ihn bedrückte skurrilerweise der Gedanke, es möchte ihm jemand eines abkaufen. Sein Traum war eigentlich, wie mir die Freun
de lachend erzählten, sie teuer zu verkaufen, aber doch zugleich dann alle behalten zu dürfen, denn er hing mit derselben Gier am Gelde wie an jedem seiner Werke. Immer, wenn er eines abgegeben, blieb er ein paar Tage verzweifelt. Mit all seinen merkwürdigen Schrullen hatte dieser geniale Harpagon uns heiter gemacht; und als gerade wieder so ein Trupp Soldaten mit dem hundebespannten Maschinengewehr vorüberzog, stand einer von uns auf und streichelte den Hund, sehr zum Ärger des begleitenden Offiziers, der befürchtete, daß durch diese Liebkosung eines kriegerischen Objekts die Würde einer militärischen Institution geschädigt werden könnte. »Wozu dieses dumme Herummarschieren?« murrte einer in unserem Kreise. Aber ein anderer antwortete erregt: »Man muß doch seine Vorkehrungen treffen. Es heißt, daß die Deutschen im Falle eines Krieges bei uns durchbrechen wollen.« »Ausgeschlossen!« sagte ich mit ehrlicher Überzeugung, denn in jener alten Welt glaubte man noch an die Heiligkeit von Verträgen. »Wenn etwas passieren sollte und Frankreich und Deutschland sich gegenseitig bis auf den letzten Mann vernichten, werdet ihr Belgier ruhig im Trockenen sitzen!« Aber unser Pessimist gab nicht nach. Das müsse einen Sinn haben, sagte er, wenn man in Belgien solche Maßnahmen anordne. Schon vor Jahren hätte man Wind von einem geheimen Plan des deutschen Generalstabs bekommen, im Falle einer Attacke auf Frankreich trotz allen beschworenen Verträgen in Belgien durchzustoßen. Aber ich gab gleichfalls nicht nach. Mir schien es völlig absurd, daß, während Tausende und Zehntausende von Deutschen hier lässig und fröhlich die Gastfreundschaft dieses kleinen, unbeteiligten Landes genossen, an der Grenze eine Armee einbruchsbereit
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