Die Welt von Gestern
tastenden Stößen die eigene Wendigkeit ausproben. Die größere Rapidität des Intellekts besaß Shaw. Es blitzte immer unter seinen buschigen Augenbrauen, wenn er eine Antwort gab oder parierte, seine Lust am Witz, am Wortspiel, die er in sechzig Jahren zu einer Virtuosität ohnegleichen vervollkommnet hatte, steigerte sich zu einer Art Übermut. Sein weißer, buschiger Bart bebte manchmal von grimmigem leisen Lachen, und den Kopf ein bißchen schief neigend, schien er immer seinem Pfeil nachzublicken, ob er auch getroffen habe. Wells mit seinen roten Bäckchen und den ruhigen, verdeckten Augen hatte mehr Schärfe und Geradheit; auch sein Verstand arbeitete ungemein rapid, aber er schlug nicht solche schillernden Volten, er stieß lieber locker und gerade mit einer leichten Selbstverständlichkeit zu. Das ging so scharf und so rasch blitzend hin und her, Parade und Hieb, Hieb und Parade, immer scheinbar im Spaßhaften bleibend, daß der Unbeteiligte das Fleuretspiel, das Funkeln und Aneinandervorbeischlagen nicht
genug bewundern konnte. Aber hinter diesem raschen und ständig auf höchster Ebene geführten Dialog stand eine Art geistiger Ergrimmtheit, die sich auf englische Art nobel in den dialektisch urbansten Formen disziplinierte. Es war – und dies machte die Diskussion dermaßen spannend – Ernst im Spiel und Spiel im Ernst, ein scharfes Gegeneinander zweier polarer Charaktere, das nur scheinbar am Sachlichen sich entzündete, in Wirklichkeit aber in mir unbekannten Gründen und Hintergründen unwandelbar festgelegt war. Jedenfalls hatte ich die beiden besten Männer Englands in einem ihrer besten Augenblicke gesehen, und die Fortsetzung dieser Polemik, die in den nächsten Wochen in der ›Nation‹ in gedruckter Form ausgetragen wurde, bereitete mir dann nicht ein Hundertstel der Lust wie dieser temperamentvolle Dialog, weil hinter den abstrakt gewordenen Argumenten nicht mehr der lebendige Mensch, nicht mehr die eigentliche Wesenheit so sichtbar wurde. Aber selten habe ich das Phosphoreszieren von Geist zu Geist durch gegenseitige Reibung so sehr genossen, in keiner Theaterkomödie die Kunst des Dialogs – nie vordem und nie nachdem – so virtuos geübt gesehen wie bei diesem Anlaß, da sie absichtslos, untheatralisch und in den nobelsten Formen sich vollendete.
Aber nur räumlich und nicht mit meiner ganzen Seele lebte ich in jenen Jahren in England. Und es war gerade die Sorge um Europa, diese schmerzhaft auf unsere Nerven drückende Sorge, die mich in diesen Jahren zwischen Hitlers Machtergreifung und dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges viel reisen und sogar zweimal über den Ozean fahren ließ. Vielleicht drängte mich das Vorgefühl, daß man sich, solange die Welt offenstand und Schiffe friedlich ihre Bahn über die Meere ziehen durften, für dunklere Zeiten an Eindrücken und Erfahrungen
aufspeichern sollte, soviel das Herz zu fassen vermochte, vielleicht auch die Sehnsucht, zu wissen, daß, während unsere Welt sich durch Mißtrauen und Zwietracht zerstörte, eine andere sich aufbaute, vielleicht sogar eine noch ganz dämmerhafte Ahnung, daß unsere und selbst meine persönliche Zukunft jenseits von Europa läge. Eine Vortragsreise quer durch die Vereinigten Staaten bot mir willkommene Gelegenheit, dieses mächtige Land in all seiner Vielfalt und doch inneren Geschlossenheit von Osten nach Westen, von Norden nach Süden zu sehen. Aber noch stärker wurde vielleicht der Eindruck Südamerikas, wohin ich gerne einer Einladung zum Kongreß des Internationalen P. E. N.-Klubs folgte; nie schien es mir wichtiger als in jenem Augenblick, den Gedanken der geistigen Solidarität über Länder und Sprachen hin zu bekräftigen. Die letzten Stunden in Europa vor dieser Reise gaben noch bedenkliche Mahnung auf den Weg mit. In jenem Sommer 1936 hatte der spanische Bürgerkrieg begonnen, der oberflächlich gesehen nur ein innerer Zwist dieses schönen und tragischen Landes, in Wirklichkeit aber schon das vorbereitende Manöver der beiden ideologischen Machtgruppen für ihren künftigen Zusammenstoß war. Ich war von Southampton mit einem englischen Schiff abgefahren und eigentlich der Meinung, der Dampfer werde, um dem Kriegsgebiet auszuweichen, die sonst übliche erste Station Vigo vermeiden. Zu meiner Überraschung fuhren wir dennoch in den Hafen ein, und es wurde uns Passagieren sogar gestattet, für einige Stunden an Land zu gehen. Vigo befand sich damals in den Händen der Franco-Leute und lag weit ab
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