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Die Welt von Gestern

Die Welt von Gestern

Titel: Die Welt von Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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eigentlich Deutschland so tollwütig rüste. Aus Berlin heimkehrende Touristen, die man dort vorsorglich geführt und umschmeichelt, rühmten die Ordnung und ihren neuen Meister, allmählich begann man in England seine ›Ansprüche‹ auf ein Großdeutschland schon leise als berechtigt zu billigen – niemand begriff, daß Österreich der Stein in der Mauer war und daß Europa niederbrechen mußte, sobald man ihn heraussprengte. Ich aber empfand die Naivität, die edle Gutgläubigkeit, mit der die Engländer und die Führenden unter ihnen sich betören ließen, mit den brennenden Augen eines, der zu Hause die Gesichter der Sturmtruppen von nahe gesehen und sie singen gehört: »Heute gehört uns Deutschland, morgen die ganze Welt.« Je mehr die politische Spannung sich verschärfte, um so mehr zog ich mich darum von Gesprächen zurück und von jeder öffentlichen Aktion. England ist das einzige Land der alten Welt, in dem ich nie einen Artikel zeitgebundener Art in einer Zeitung veröffentlichte, nie im Radio gesprochen, nie mich an einer öffentlichen Diskussion beteiligt habe; ich habe dort anonymer in meiner kleinen Wohnung gelebt als dreißig Jahre vordem der Student in der seinen in Wien. So habe ich kein Recht, England als gültiger Zeuge zu schildern, um so weniger als ich mir späterhin gestehen mußte, daß ich vor dem Kriege nie wirklich Englands tiefste, ganz in sich verhaltene und nur in der Stunde äußerster Gefahr sich enthüllende Kraft erkannt.
    Auch von den Schriftstellern sah ich nicht viele. Gerade die beiden, denen ich mich später zu verbinden begonnen hatte,
John Drinkwater und Hugh Walpole, nahm der Tod frühzeitig hinweg, den Jüngeren wiederum begegnete ich nicht oft, da ich, aus jenem unselig mich belastenden Unsicherheitsgefühl des ›foreigners‹, Klubs, Diners und öffentliche Veranstaltungen mied. Immerhin hatte ich einmal den besonderen und wirklich unvergeßlichen Genuß, die beiden schärfsten Köpfe, Bernard Shaw und H. G. Wells, in einer unterirdisch geladenen, äußerlich ritterlichen und brillanten Auseinandersetzung zu sehen. Es war bei einem Lunch in engstem Kreise bei Shaw, und ich befand mich in der teilweise anziehenden, teilweise peinlichen Situation eines, der nicht vorher Bescheid darüber wußte, was eigentlich die unterirdische Spannung erregte, die elektrisch zwischen den beiden Patriarchen zu fühlen war, schon an der Art, wie sie einander begrüßten, mit einer von Ironie leicht durchsetzten Vertraulichkeit – es mußte zwischen ihnen eine prinzipielle Meinungsverschiedenheit bestanden haben, die kurz zuvor beigelegt worden war oder durch diesen Lunch beigelegt werden sollte. Diese beiden großen Gestalten, jede ein Ruhm Englands, hatten vor einem halben Jahrhundert im Kreise der ›Fabier‹ Schulter an Schulter für den damals gleichfalls noch jungen Sozialismus gekämpft. Seitdem hatten sie sich gemäß ihrer sehr bestimmten Persönlichkeiten mehr und mehr voneinander entwickelt, Wells in seinem aktiven Idealismus beharrend, unermüdlich an seiner Vision der Menschheitszukunft bauend, Shaw dagegen immer mehr das Zukünftige wie das Gegenwärtige skeptisch-ironisch betrachtend, um daran sein überlegen-amüsiertes Denkspiel zu erproben. Auch in der körperlichen Erscheinung hatten sie sich mit den Jahren immer mehr zu Gegensätzen geformt. Shaw, der unwahrscheinlich frische Achtzigjährige, der beim Essen nur Nüsse und Früchte knabberte, hoch, hager, unablässig gespannt, immer ein scharfes Lachen um die leicht gesprächigen Lippen und
mehr noch verliebt in das Feuerwerk seiner Paradoxe als jemals, Wells, der lebensfreudige Siebzigjährige, genießerischer, behaglicher als je vordem, klein, rotbackig und unerbittlich ernst hinter seiner gelegentlichen Heiterkeit. Shaw blendend in der Aggressivität, rasch und behende die Punkte des Vorstoßes wechselnd, der andere in taktisch starker Verteidigung, unerschütterlich wie immer der Gläubige und Überzeugte. Ich hatte gleich den Eindruck, daß Wells nicht bloß zu einem freundschaftlichen Lunchgespräch gekommen war, sondern zu einer Art prinzipieller Auseinandersetzung. Und gerade weil ich nicht über die Hintergründe des gedanklichen Konflikts informiert war, spürte ich das Atmosphärische um so stärker. Es flackerte in jeder Geste, jedem Blick, jedem Wort der beiden eine oft übermütige, aber doch wohl ziemlich ernste Rauflust; es war, wie wenn zwei Fechter, ehe sie einander scharf angehen, mit kleinen

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