Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgaensen - Vollstaendige Ausgabe
hätte mich als ein Dieb fortgeschlichen; das ist nun freilich einerlei, denn ich bleibe nicht lange hier. Bevor ich wieder gehe, möchte ich aber doch noch wissen, was dir eigentlich fehlt.“
„Wie schade, daß du nicht hier bleibst!“ sagte das Pferd. „Ich bin überzeugt, wir zwei wären sehr gute Freunde geworden. Mir fehlt gar nichts, als daß ich mir etwas in den Fuß hineingetreten habe, eine Messerspitze, oder was es sonst sein mag. Es sitzt so tief drinnen, daß es der Doktor nicht entdeckt; aber es sticht und sticht, und deshalb kann ich durchaus nicht auftreten. Wenn du nur Holger Nilsson mitteilen würdest, was mir fehlt, dann würde er mir gewiß helfen können. Ich möchte doch für all das Futter auch etwas leisten und schäme mich wirklich, hier nichts zu tun, als immer nur zu fressen.“
„Wie gut, daß du keine eigentliche Krankheit hast!“ rief der Junge. „Ich muß dafür sorgen, daß du kuriert wirst. Es täte dir wohl nicht weh, wenn ich mit meinem Messer ein wenig auf deinen Huf kritzelte?“
Nils Holgersson war mit dem Pferde eben fertig geworden, als er draußen auf dem Hofe Stimmen hörte. Er öffnete vorsichtig einen Spalt an der Stalltür und lugte hinaus: Sein Vater und seine Mutter waren es, die von der Landstraße her auf das Haus zukamen. Ach ja, Nils Holgersson sah ihnen wohl an, wie niedergedrückt sie waren! Seine Mutter hatte mehr Runzeln imGesicht, als sie im Frühjahr gehabt hatte, und sein Vater war ganz grau geworden; die Mutter versuchte eben den Vater zu überreden, von seinem Bruder Geld zu entlehnen.
„Nein, ich will nicht noch mehr Geld entlehnen,“ sagte der Vater gerade in dem Augenblick, wo die beiden am Stall vorübergingen. „Schulden haben ist das allerschlimmste, dann lieber noch den Hof verkaufen.“
„Ich hätte auch nicht so sehr viel gegen den Verkauf, wenn es nicht des Jungen wegen wäre,“ erwiderte die Mutter. „Aber wo soll er sich hinwenden, wenn er nun, wie man sich denken kann, eines Tages arm und elend zurückkehrt und wir dann nicht mehr da sind?“
„Ja, da hast du recht,“ sagte der Vater. „Aber wir müßten eben den neuen Besitzer bitten, ihn freundlich aufzunehmen und ihm zu sagen, daß wir ihn erwarten. Und wir werden ihm kein böses Wort geben, wie er auch sein mag, nicht wahr, Mutter?“
„Ach nein, nein! Wenn ich ihn nur wieder hätte, dann wüßte ich doch, daß er nicht auf der Landstraße hungern und frieren muß; das andre wäre dann ganz einerlei.“
Nach diesen Worten gingen die beiden ins Haus hinein, und der Junge hörte nichts mehr von ihrer Unterhaltung. Die Worte der Eltern hatten ihn beglückt und gerührt; er erkannte daraus, wie innig lieb sie ihn hatten, obwohl sie glaubten, er sei ganz verkommen. Er hatte die größte Lust, hinter ihnen herzulaufen. „Aber ach, wenn sie mich so sähen, wie ich jetzt bin, würden sie vielleicht noch viel betrübter!“ dachte er.
Während er noch überlegte, was er tun solle, kam ein Wagen dahergefahren und hielt gerade vor dem Hoftor. Beinahe hätte der Junge vor lauter Überraschung laut hinausgeschrien; denn die Reisenden, die ausstiegen und in den Hof hereinkamen, waren niemand anders, als das Gänsemädchen Åsa mit ihrem Vater. Hand in Hand gingen sie auf das Haus zu; sie schritten ganz still und ernst vorwärts, aber ein schöner, glücklicher Glanz strahlte aus ihren Augen. Als sie ungefähr mitten auf dem Hofe angekommen waren, hielt Åsa ihren Vater zurück und sagte: „Vergiß es ja nicht, Vater, du darfst weder von dem Holzschuh ein Wort erwähnen, noch von den Wildgänsen, noch von dem kleinen Knirps, der Nils Holgersson so aufs Haar geglichen hat, daß er, wenn es nicht Nils selbst gewesen ist, doch in irgendeinem Zusammenhang mit ihm gestanden haben muß.“
„Nein, nein, ich will gewiß nichts davon sagen,“ erwiderte Jon Assarsson. „Ich werde nur sagen, ihr Sohn sei dir mehrere Male eine große Hilfe gewesen, und wir kämen deshalb, zu fragen, ob wir ihnen dafür nicht auch eine Gefälligkeit erweisen könnten. Seit ich die Grube da droben entdeckt habe, bin ich ja ein wohlhabender Mann geworden und habe mehr, als ich brauche.“
„Ja, ich weiß wohl, daß du deine Worte gut zu setzen verstehst,“ sagte Åsa, „und ich meinte auch nur, du solltest dieses eine verschweigen.“
Sie traten ins Haus hinein, und der Junge wäre schrecklich gerne mitgegangen, um zu hören, was drinnen gesprochen wurde. Aber er wagte sich nicht über den Hofplatz
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