Die zehnte Kammer
von Kammer zu Kammer.
»Woher wusstest du es?«, fragte er schließlich.
»Dass der Tee keine Wirkung auf dich haben würde?«
Er nickte.
»Es lag an deinen Tabletten gegen die Infektion an deinem Finger. Da war Rifampicin drin, das die Leber zur verstärkten Produktion eines Enzyms namens CYP3A4 anregt. Weißt du, was dieses Enzym bewirkt?«
Er sah sie verständnislos an.
»Es vernichtet Mutterkornalkaloide. Wenn du ein guter Junge warst und brav deine Tabletten eingenommen hast, dann konnte dir das Mutterkorn in dem Tee nichts anhaben. Und die anderen Chemikalien möglicherweise auch nicht.«
»Ich bin immer ein guter Junge. na ja, meistens. Aber reden wir lieber über dich. Du bist wirklich ein kluges Mädchen.«
»Ich kenne mich bloß mit Pflanzen aus, das ist alles.«
Luc wurde ernst. »Also wie war es?«
Sie atmete tief durch.
»Inzwischen weiß ich in etwa, was mit mir geschehen ist und was nicht. Die Ärzte haben mich genau untersucht und gesagt, dass es nicht zu einer Vergewaltigung gekommen ist. Dank dir. An die ganze Episode mit Jacques erinnere ich mich glücklicherweise nicht. Aber das, woran ich mich erinnere, war herrlich. Ich war ganz leicht, ich bin geschwebt und durch die Luft geflogen. Es war äußerst angenehm. Erstaunt dich das?«
»Überhaupt nicht. So was Ähnliches habe ich mir schon gedacht. Würdest du das Zeug denn nochmals nehmen?«
»Auf der Stelle«, sagte sie und lachte. Aber dann drückte sie seine Hand fester und fügte mit ernster Stimme hinzu: »Nein, wohl eher nicht. Da ist mir ein altmodischer, natürlicher Rausch allemal lieber.«
Er lächelte.
»Luc, ich fühle mich schlecht wegen all der Menschen, die gestorben sind – Pierre, Jeremy und die anderen, und der Tod von Fred Prentice macht mich zutiefst traurig. Er war so ein lieber Mensch und wäre ganz groß rausgekommen, wenn er die Stoffe in diesem Gebräu hätte analysieren dürfen.«
»Ja, es ist furchtbar, dass die Wissenschaft in dieser Hinsicht komplett von Leuten wie Gatinois abhängig ist«, sagte Luc. »Ich habe keinerlei Vertrauen zu dem Kerl.«
Sie seufzte schwer. »Findest du diesen Kuhhandel mit dem General etwa richtig?«
»Es war die einzige Möglichkeit, am Leben zu bleiben. Und er hat uns die Höhle bewahrt, die wir nun für den Rest unseres Lebens erforschen können. Andernfalls hätte Gatinois uns umgebracht und Bonnet die Schuld dafür in die Schuhe geschoben.«
»Aber wir können in der Höhle doch gar nicht so forschen, wie wir wollen«, gab Sara zu bedenken. »Bei allem, was diese Pflanzen betrifft, müssen wir uns dumm stellen. Wir müssen vertuschen, was wir aus dem Manuskript wissen, das wird nicht einfach werden. Und dann sind da noch die Mörder von Cambridge und Ruac, die völlig ungestraft davonkommen werden.«
Luc drückte ihr sanft den Arm. »Schau, ich fühle mich auch nicht wohl bei dieser Sache, aber wir sind am Leben, und das ist die Hauptsache! Auch wenn ich mit Gatinois nur ungern einer Meinung bin, aber es wäre wirklich eine Katastrophe, wenn das Rezept für den Tee herauskäme. Wir mussten eine Entscheidung treffen, und wir haben getan, was wir tun mussten. Ich denke, es war das Richtige.«
Sie seufzte und nickte.
»Und jetzt komm schon«, sagte Luc und zog sie an der Hand. »Du weißt, wo ich hinwill.«
Als sie in der zehnten Kammer vor dem großen Vogelmann standen und sich umarmten, kam es Luc zum ersten Mal so vor, als hätte der Vogelmann den Schnabel geöffnet, um zu lachen. Es war ein zutiefst menschlicher Ausdruck großer Freude.
»Fühlt sich so an, als wäre das irgendwie unser Platz«, sagte Luc. »Ich will immer wieder hierherkommen, um zu arbeiten und zu lernen. Ich denke, das ist der erstaunlichste Ort auf der ganzen Welt.«
Sie küsste ihn. »Das denke ich auch.«
»Diesmal werde ich es besser machen«, schwor er.
Sie sah ihm mit einem skeptischen Blick in die Augen. »Bist du dir sicher?«, fragte sie. »Gebranntes Kind scheut das Feuer.«
»Ja, ich bin mir sicher. Ich werde gut zu dir sein, und das für sehr lange Zeit. Solange ich lebe.«
Ihrem Lächeln konnte Luc nicht entnehmen, ob sie ihm das glaubte.
EPILOG
Rochelle, Pennsylvania
Nicholas Durand trocknete ab, während seine Frau abspülte. Seit dem Tag ihrer Hochzeit half er ihr treu und brav beim Abwasch, den sie aus alter Gewohnheit immer noch per Hand erledigten. Er konnte sich nicht erinnern, jemals die Spülmaschine benutzt zu haben, die ihre Tochter ihnen geschenkt hatte.
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