Die Zwölf: Band 2 der "Passage-Trilogie" - Roman - (German Edition)
suchte nach einem Zeichen. Welche Gestalt dieses Zeichen haben würde, wusste er nicht. Es konnte jetzt kommen, es konnte später oder auch gar nicht kommen. Das war die Bürde seines Glaubens. Er öffnete seinen Geist und wartete. Die Zeit verging. Die Nacht, die Sterne, die Menschen, die er kannte– alles zog durch ihn hindurch wie ein Segen.
Und dann:
Lucius. Mein Freund. Hallo.
Und in dieser Nacht der wundersamen Dinge erwachte Peter, der vor dem Schuhgeschäft saß, mit dem Gefühl, dass er in Wirklichkeit überhaupt nicht wach war– dass nur ein Traum in den nächsten geführt hatte wie eine Tür hinter einer Tür. Ein Traum, in dem er wieder mit Saras Tochter auf dem Schoß am Rand der verschneiten Felder saß. Alles war wie vorher– der tintenschwarze Himmel, die winterliche Kälte, die späte Stunde–, nur eines nicht: Sie waren nicht allein.
Aber es war kein Traum.
Sie stand vor ihm, geduckt nach Art der Ihren. Ihre körperliche Verwandlung war vollendet, aber als ihre Blicke sich trafen und festhielten, flackerte das Bild in seinem Kopf: Es war kein Viral, den er vor sich sah. Es war ein Mädchen und dann eine Frau und dann beides zugleich. Sie war Amy, das Mädchen von Nirgendwo. Sie war Amy von den Seelen, die Letzte der Zwölf. Sie war nur sie selbst. Sie streckte ihm eine Hand entgegen, die Handfläche aufwärts gewandt, und Peter tat es ihr nach. Pures Verlangen strömte machtvoll in sein Herz, als ihre Finger sich berührten. Es war so etwas wie ein Kuss.
Wie lange sie so blieben, wusste Peter nicht. Zwischen ihnen, im warmen Kokon seines Parkas, schlief Kate tief und fest und ahnungslos. Die Zeit hatte sich aus ihrer Verankerung gelöst. Peter und Amy trieben zusammen in der Strömung. Bald würde das Kind aufwachen, oder Sara oder Hollis würde kommen, und dann wäre Amy fort. In einem Streifen Sternenlicht würde sie sich in die Höhe schwingen. Peter würde das schlafende Kind in seine Decke hüllen, er würde sich selbst hinlegen und sogar versuchen zu schlafen. Und am nächsten Morgen, in der grauen Winterdämmerung, würden sie die steifen Glieder recken und ihre Ausrüstung in die Fahrzeuge packen und auf der langen Straße nach Süden weiterfahren. Der Augenblick wäre vorüber und wie alles andere nur noch eine Erinnerung.
Aber jetzt noch nicht.
Epilog
Die goldene Stunde
Ich könnte eher von mir selbst mich reißen Als los von dir, da meine Seele ruht. Dort ist der Liebe Heim!
Shakespeare, Sonett 109
69
Diesmal saß eine Frau am Steuer. Amy legte ihr Pappschild hin und stieg ein.
» Hallo, Amy.« Die Frau legte ihre Tasche zur Seite und streckte die Hand aus. » Ich bin Rachel Wood.«
Sie begrüßten einander. Einen Moment lang war Amy sprachlos und wie gebannt von der Schönheit der Frau: ein zartes, feinknochiges Gesicht, eine Haut, die von jugendlicher Gesundheit leuchtete, ein fester, kräftiger Körper und Arme mit schmalen, klar definierten Muskeln. Ihr Haar, das sie zu einem straffen Pferdeschwanz nach hinten gebunden hatte, war weder braun noch blond, sondern ein bisschen von beidem. Amy wusste, dass es Tenniskleidung war, was sie trug, aber dieses Wissen schien anderswoher zu kommen, denn mit dem Begriff Tennis verband sie rein gar nichts. Eine Sonnenbrille mit winzigen Edelsteinen in den Bügeln saß oben auf ihrem Kopf.
» Es tut mir leid, dass ich nicht hier war, um Sie abzuholen«, fuhr Rachel fort. » Anthony meinte, Sie würden beim ersten Mal gern ein vertrautes Gesicht sehen.«
» Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen«, sagte Amy.
» Es ist nett, dass Sie das sagen.« Sie lächelte und zeigte dabei ihre Zähne, die klein und ebenmäßig und sehr weiß waren. » Schnallen Sie sich an.«
Sie glitten unter der Hochstraße hervor. Alles war wie beim letzten Mal– dieselben Häuser, Geschäfte, Parkplätze, dasselbe leuchtende Sommerlicht, dieselbe geschäftige Welt, die vorüberzog. Im tiefen Lederpolster ihres Sitzes fühlte Amy sich, als schwebe sie in einer Badewanne. Rachel wirkte ganz entspannt am Steuer dieses riesenhaften Wagens. Sie summte ein tonloses Liedchen vor sich hin, während sie sicher durch den Verkehr steuerte. Als ein großer Pick-up vor ihnen bremste und die Fahrspur blockierte, schaltete Rachel den Blinker ein und schwenkte geschickt an ihm vorbei.
» Meine Güte«, seufzte sie, » manche Leute. Ob sie jemals Autofahren lernen?« Sie warf einen schnellen Blick zu Amy herüber und schaute dann wieder auf die Straße. Einen Moment
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