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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Königs war leer.
    Kein Kopf war zwischen den bestickten Kissen zu sehen, kein Körper lag unter den seidenen Decken. Sein Traum hatte ihn betrogen.
    Ein Windhauch bewegte die bodenlangen Vorhänge vor den Fenstern, und da sah Jumar, dass jemand dort stand, beinahe eins mit den Vorhängen, am Rande des äußersten Fensters.
    Er trat näher. Von hier oben sah man die Drachen in den Straßen und auf den Plätzen; sah, wie sie ihre langen Hälse suchend wanden, ihre Köpfe mit den Glutaugen drehten, auf ihren kurzen, schillernden Beinen über die Dächer krochen ... sie näherten sich, auf ihrer Suche nach Farben. Sie näherten sich dem Palast.
    »Hallo?«, wisperte Jumar.
    Der Mann, der halb im flüchtigen Stoff des Vorhangs verborgen stand, drehte sich um.
    Er trug einen tadellosen Anzug und eine seidene Krawatte. Als hätte er sich für einen Empfang gekleidet. Oder für eine Abschiedszeremonie. Er war es. Er, der König. Aber seine Augen waren verborgen unter einem Vorhang aus Tabletten, die verhinderten, dass sein Kopf vor Schmerzen zersprang. Verborgen hinter einem Netz aus Verwirrtheit und mühsam noch zusammengehaltenem Geist. Wie alt er aussah! So unendlich, unvorstellbar alt.
    Zu klein für seinen Anzug. Es war, als müsste das Gewicht der Krawatte ihn zu Boden ziehen.
    »Wer – wer bist du?«, fragte er: irritiert. Erschöpft. Müde. Verunsichert.
    »Erkennst du meine Stimme denn nicht?«
    Der König schloss die Augen. »Sag noch einmal etwas«, bat er. »Ein Wort nur –«
    »Vater«, sagte Jumar leise.
    Da nickte der alte Mann, und ein Lächeln überzog sein Gesicht.
    »Jumar«, flüsterte er und öffnete die Augen. »Was ist geschehen?«
    »Zu viel, um es dir jetzt zu erklären. Sag mir nur eines: Du bist gar nicht krank, nicht wahr? Die ganze Geschichte mit dem Hirntumor war eine Erfindung Kartans. Er hat gelogen, nicht wahr?«
    Der alte Mann am Fenster lächelte nach wie vor.
    »Ich fürchte, Jumar«, antwortete er, »er hat die Wahrheit gesagt.«
    Jumar trat noch einen Schritt näher und streckte die Hand aus, um den Arm seines Vaters zu berühren. »Wirst du ... wirst du sterben?«, fragte er.
    »Ich bin schon dabei«, erwiderte der König. Er hörte nicht ein einziges Mal auf zu lächeln, während er sprach. »Aber es ist Zeit. Beinahe ist es zu spät. Sieh nur, was dort draußen geschieht. Es ist meine Schuld.«
    »Nein –«
    »Doch, Jumar, doch. Du weißt es.«
    Jumar sammelte alle Kraft in sich und sagte: »Vater. Ich brauche die Macht. Ich brauche sie, um die Drachen zu besiegen.«
    Ein Stirnrunzeln ersetzte das Lächeln des alten Mannes. »Die Macht?«
    »Den Schlüssel«, sagte Jumar, »zu dem verschlossenen Raum. Die Truhe. Weißt du nicht mehr?«
    Für einen Moment befürchtete Jumar, die Erinnerung hätte seinen Vater verlassen.
    Doch jetzt nickte er, langsam, als fiele es ihm schwer.
    »Komm«, sagte er.
    Und Jumar folgte seinen schleppenden Schritten durch das Mondlicht, das das Zimmer füllte, über den Flur ... Arne und Christopher schlossen sich ihnen an, doch er bemerkte sie kaum.
    Der alte König griff in eine Tasche seines fleckenlosen, faltenlosen Anzugs, holte einen winzigen Schlüssel hervor und drehte ihn im Schloss. Die Tür öffnete sich mit einem kaum hörbaren Knirschen, und ein Licht in der Decke ging von selbst an.
    Jumar betrat den Raum alleine.
    Er durchquerte ihn mit zwei Schritten.
    Die Truhe stand auf einem kleinen Tisch. Ihre Metallbeschläge fühlten sich kühl an unter seinen Fingern. Der Verschluss bot ihm keinen Widerstand. Er sprang mit einem Klicken auf.
    Hinter Jumar sagte der König: »Nimm sie an dich, die Truhe. Mein Sohn. Sie gehört dir. Aber sie ist leer.«
    Jumar starrte den Samt an, der die Truhe polsterte. Es war nichts darin, gar nichts, nicht einmal das winzigste Körnchen Sand.
    »Die Magie der Könige«, sagte sein Vater, und seine Stimme klang brüchig wie altes Leder, »die Magie der Könige schläft in den Herzen der Menschen. Sie sind es, die du gewinnen musst, um ein Land zu regieren. Die Herzen deines Volkes. Ich habe sie verloren.«
    Jumar drehte sich um, mit leeren Händen.
    »Du hast sie bereits gewonnen«, sagte Arne. »Sie haben die Lichter für dich entzündet, obwohl sie wussten, dass die Drachen kommen würden.«
    »Aber – ich – wie –«
    Jumar hob hilflos die Hände. »Wie sollen wir jetzt jemals die Drachen besiegen? Diese Magie ... die Macht... sie war die einzige Möglichkeit! Wenn es sie nicht gibt, ist alles

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