0372 - Werwolf-Omen
Deshalb sammelte sie alle Kräfte. Sie warf ihren Körper bei jedem Schritt vor, und das lange, lockige Haar tanzte im Rhythmus ihrer Bewegungen.
Trotz der kühlen Nacht hatte sie ihre Jacke fortgeschleudert. Laura wollte sie einfach nicht auf dem Körper spüren, sie war ihr hinderlich, und jetzt fuhr der Wind ungebremst gegen ihre dünne blaue Bluse, die sich eng wie eine zweite Haut um die sanften Formen schmiegte.
Der Wind hätte Laura eigentlich erfrischen müssen, doch sie hatte das Gefühl, gegen einen warmen bis heißen Wüstensturm zu laufen, der über sie kam und sie zu stoppen versuchte.
Nur nicht aufgeben!
Wie weit war es noch bis zum Ziel? Eine Meile, vielleicht auch weniger? Laura konnte keine Antwort geben, ihr Denkapparat war gestört. Über ihr Hirn schien sich eine Decke gelegt zu haben, die immer schwerer wurde, zudrückte und auch die Laura umgebende Landschaft zu einem bühnenartigen Possenspiel degradierte.
Sie wußte, daß rechts und links der Straße Bäume wuchsen. Hohe, schlanke Pappeln, aber die nahm sie nicht wahr. Für Laura hatten sich die Gewächse verwandelt. Sie glichen jetzt gefährlichen Schatten, die ihre Arme in die Höhe gereckt hatten, um sie im rechten Augenblick auf die laufende Person niederfallen lassen zu können.
Für das neunzehnjährige Mädchen Laura war die Gegenwart zu einer Welt des Unheils geworden.
Der Druck in ihrem Kopf nahm zu. Irgendwo schien jemand mit einem Hammer zu sitzen und ständig gegen die Hirnschale zu schlagen. Kleine Schmerzwellen breiteten sich aus. Ähnlich wie ein Stein, der ins Wasser gefallen war und auslaufende Wellen bildete.
Es war furchtbar…
Aber sie gab nicht auf. Immer wieder stemmte sie sich gegen die schreckliche Verwandlung. Wo sie auch war, wo sie auch hinlief, es erreichte sie, und jedesmal wurde es zu einer mörderischen Qual.
Wie hatte ihre Mutter noch, gesagt? »Es ist der Fluch der alten Zeit, Mädchen. Dagegen kannst du nicht an. Finde dich damit ab, daß es Dinge gibt, die stärker sind als du. Wer den Ruf des Blutes einmal empfangen hat, wird ihm immer folgen müssen. Auch du…«
»Warum du nicht, Mutter? Warum du nicht?« hatte sie gefragt.
»Du bist doch so normal.«
»Ich hatte Glück, mein Kind. Manchmal überspringt der Ruf auch eine Generation. Dich hat er gepackt…«
»Neeinnn…!« Lauras Gedanken kehrten wieder zurück in die Realität. Sie hatte so laut geschrien, weil sie es wieder einmal nicht wahrhaben wollte, eine Erbin des Grauens zu sein, das ihre Mutter Fluch der alten Zeit genannt hatte.
Was war die alte Zeit? Oft genug hatte Laura die Fragen gestellt und so gut wie keine Antworten bekommen. Ein verloren wirkendes Lächeln, ein Heben der Schultern.
Die alte Zeit…
Sie würde ihr Leben bestimmen, bis zum Tod, oder bis zur Vernichtung, denn damit mußte sie auch rechnen.
Sie lief am rechten Straßenrand. Die Beine wurden schwerer. Von Sekunde zu Sekunde schienen sie mit Bleiplättchen behangen zu werden, und es wurde schlimmer. Immer mehr Kraft mußte Laura aufwenden, um die Füße vom Boden zu heben. Die Geschwindigkeit, mit der die Bäume an ihren nassen Augen vorbeihuschten, nahm ab. Ein Zeichen, wie sehr Laura unter der Kraftlosigkeit und Erschöpfung litt.
Dann konnte sie nicht mehr. Sie taumelte nach rechts, erwischte eine Lücke zwischen zwei Pappeln und wäre auf dem feuchten Rasen fast ausgerutscht und im mit Wasser gefüllten Graben gelandet.
Der Stamm hielt sie auf.
Laura lehnte sich dagegen, auch mit dem Kopf. Die harte Rinde hinterließ ein Muster auf der kalkblassen Stirn des Mädchens.
Alles war blaß und bleich. Ähnlich wie der volle Mond, der noch verborgen hinter dünnen Wolkenbänken stand. Irgendwann würden die Wolken verschwinden und der Erdentrabant klar zu sehen sein.
Dann gab es keine Rettung mehr für sie, denn Laura würde zur Bestie werden.
Mondlicht war Balsam für Vampire, ebenso für die Werwölfe…
»Warum mußte mich der Fluch treffen?« Sie fragte es und weinte dabei.
Es war niemand da, der ihr eine Antwort hätte geben können.
Keine Mutter, die saß im Haus und wartete voller Ungeduld. Und die Laura umgebende Natur schwieg.
Bäume redeten nicht…
Sie hätte sich gern in das feuchte Gras fallen lassen, aber das hatte keinen Sinn. Wenn sie die Verwandlung hier erwischte, war es aus.
Nein, das mußte im Haus geschehen, wie immer, denn ihre Mutter wußte genau, was sie zu tun hatte. Sie würde Laura in den Käfig sperren und…
Zum erstenmal
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