Drachensturm
1 . Tag
Das Ledergeschirr knarrte bei jedem Flügelschlag. Mila streckte ihre Rechte hinaus in die Finsternis, die sie seit ihrer Geburt umgab. Sofort zerrte der Wind an ihren Fingern. Sie flogen schnell und wohl auch nicht sehr hoch, denn seit einiger Zeit klang das Rauschen des Meeres sehr nah. Ein neuer Geruch stieg ihr in die Nase, würzig und fremd. Das Land konnte nicht mehr weit sein. Mila spürte, wie Marduk, der große Drache, der sie trug, seine Flügel im Wind ausbreitete und in den Gleitflug überging. Das Geschrei von Seevögeln wehte heran, und dann, schnell näher kommend, die Brandung der Ozeanwellen an fremden Ufern. Ein durchdringender Pfiff durchschnitt das gleichmäßige Rauschen der Wellen. Mila zuckte erschrocken zusammen, obwohl sie das Signal eigentlich schon erwartet hatte. Marduk stieß einen heiseren Ruf aus, und seine mächtigen Schwingen schlugen nun wieder auf und ab. Sie gewannen Höhe. Aus der Finsternis drangen die Rufe der anderen Drachen heran. Es waren dreizehn, die letzten ihrer Art, und sie waren hier, um dem Kaiser neues Land zu gewinnen. Der rollende Donner der Brandung kam rasch näher. Er klang beinahe wie ferne Kanonen. Mila klammerte sich fester an ihren Sattel. » Der Kriegsruf, Marduk«, rief der Hochmeister.
Marduk knurrte, holte tief Luft, und dann brüllte er, und die anderen Drachen fielen ein. Sie brüllten so laut, dass Mila sich die Ohren zuhielt, und verkündeten so ihren neuen Feinden, dass sie kamen.
Ein Heer von Zikaden hatte die Stadt eingeschlossen und schickte sich an, die Herrschaft über die vielfältigen Geräusche der Abenddämmerung anzutreten. Kemaq blickte auf seinen Teller mit abgenagten Maiskolben. Er war immer noch hungrig. Sein Bruder Jatunaq schob das Geschirr wortlos, aber mit deutlich sichtbarem Unwillen zur Seite. Auch er war offenbar nicht satt geworden. Eine Zeitlang lauschten sie den Zikaden. Es war ihr Bruder Qupay, der zuerst das Wort ergriff: » Wir sollten Inti noch einmal für diese Mahlzeit danken, und dafür, dass wir nach so langer Zeit wieder glücklich vereint sind.«
Jatunaq brummte etwas, was sowohl Zustimmung wie auch Widerspruch sein mochte, und Kemaq lauschte in die Dunkelheit. Im Stillen gab er Qupay im zweiten Punkt Recht – es war lange her, dass sie zu dritt zusammengesessen hatten. Jatunaq war zwei Jahre fort gewesen und erst am Vortag aus dem Krieg heimgekehrt. Den ganzen Tag schon hatte Kemaq ihn behutsam nach den Kämpfen ausgefragt, aber Jatunaq war nicht sehr gesprächig gewesen. Er hatte sich ausgezeichnet, so viel war sicher, denn er war zum Anführer seiner Schar ernannt worden, aber über Einzelheiten schwieg er sich aus. Kemaq brannte darauf, mehr zu erfahren, gleichzeitig scheute er davor zurück, durch weitere Fragen Erinnerungen zu wecken, die seinem Bruder unangenehm zu sein schienen. Zu seiner Erleichterung nahm ihm Jatunaq diesen Schritt ab. Vielleicht hatte er bemerkt, dass Kemaq wieder einmal wie gebannt die tiefe Narbe auf seinem Oberarm anstarrte.
» Ein Speer, bei der Schlacht um Ambato. Der Mann, dem diese Waffe gehörte, kämpfte tapfer, doch ich habe ihn getötet«, verkündete er schlicht.
» Wann erzählst du uns von Cuzco?«, platzte Kemaq heraus.
Jatunaqs Miene verdüsterte sich schlagartig. » Frag mich nicht nach Cuzco, kleiner Bruder.« Dann seufzte er. » Jedenfalls bin ich froh, dass dieser Krieg endlich beendet ist.«
» Und dass Inti unseren Waffen zum Sieg verholfen hat«, warf Qupay ein.
Kemaq zog die Knie ans Kinn und schwieg. Jatunaq hatte sich verändert. Er war immer schon ernst gewesen, weil er als ältester Bruder die meiste Verantwortung zu tragen hatte, seit ihre Eltern fort waren, doch nun war er beinahe schwermütig.
Die Zikaden waren lauter geworden. Die alte Mocto, die das Essen für sie gekocht hatte, tauchte aus der nahen Hütte auf und begann, das Geschirr abzuräumen.
» Es war gut«, murmelte Jatunaq ein halbherzig klingendes Lob.
» Das glaub ich wohl«, murrte die Alte und verschwand in der Hütte.
Jatunaq grinste breit. » Ich sehe, sie ist während meiner Abwesenheit nicht freundlicher geworden.«
» So lange warst du dann doch nicht fort«, meinte Kemaq.
Der Krieger lachte und schüttelte den Kopf. » Es ist schon eigenartig. Viele Monde sind wir durch das weite Land gezogen und haben Huáscar und seinen Männern Schlacht um Schlacht geliefert. Es war eine harte Zeit, jede Straße hätte uns leicht in das Reich der Toten führen können, aber so
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