Drachentochter
endlich einem leichten Ziehen gewichen. Hian, der alte Waffenmeister, saß auf einer Kiste neben der Tür zur Waffenkammer und polierte einen kleinen, frisch geschmiedeten Dolch.
»Haben sie dich wieder rausgeworfen?«, fragte er, als ich an ihm vorbeiging.
Ich blieb stehen. Hian hatte noch nie mit mir gesprochen.
»Ja, Waffenmeister«, sagte ich und senkte das Kinn, um seinen Hohn über mich hinwegspülen zu lassen.
Er hielt den Dolch vor sich in die Höhe und prüfte die Schneide. »Ich habe den Eindruck, du hast dich ganz gut geschlagen.«
Ich blickte ihm in die Augen; das Weiße erschien gegen die vom Schmiedeofen gerötete Haut fast gelblich.
»Mit deinem Bein wirst du den Dritten Spiegeldrachen nie richtig hinbekommen«, sagte er. »Versuch es stattdessen mit einer anderen Sequenz, mit dem Umgekehrten Zweiten Pfer dedrachen. Das haben schon andere vor dir getan. Ranne hätte dir das sagen sollen.«
Ich verzog keine Miene, konnte aber den Funken Hoffnung, der in mir aufkeimte, nicht ganz unterdrücken. War das wahr? Aber warum erzählte er es mir? Vielleicht machte er sich bloß über den Krüppel lustig.
Er stand auf und stützte sich dabei am Türpfosten ab. »Ich werfe dir dein Misstrauen nicht vor, Junge. Aber frag deinen Meister. Er ist einer der besten Geschichtskenner und wird dir bestätigen, dass ich recht habe.«
»Ja, Waffenmeister. Danke.«
Auf einen Schrei hin drehten wir uns nach den Anwärtern in der Arena um. Baret lag vor Ranne auf den Knien.
»Schwertmeister Louan galt als einer der besten Lehrer, was die Eröffnungszeremonie angeht. Es ist schade, dass er sich zur Ruhe gesetzt hat«, sagte Hian ungerührt. »Hast du Übungsschwerter zu Hause?«
Ich nickte.
»Dann trainiere heute Abend den Umgekehrten Zweiten Pferdedrachen, bevor du mit dem Reinigungsritual beginnst.« Er stieg steif die beiden Treppenstufen hinunter und sah sich noch mal nach mir um. »Und bestell deinem Meister Grüße vom alten Hian.«
Ich sah ihn langsam zum Tor gehen, das zum Schmiedeofen führte. Das ferne Klirren von Hammer und Amboss begleitete seinen Abgang. Wenn er recht hatte und ich den Dritten Spiegeldrachen durch den Umgekehrten Zweiten Pferdedrachen ersetzen konnte, würde ich keine Schwierigkeiten haben, die Angriffssequenz zu beenden.
Ich trat in die kühle, halbdunkle Waffenkammer und warte te, bis meine Augen sich an das schwache Licht gewöhnt hatten. Ich war weniger überzeugt als der Waffenmeister, dass der Drachenrat eine Abwandlung der Zeremonie erlauben würde, besonders in der Spiegeldrachensequenz. Dieser Drache war schließlich das Symbol des Kaisers und der Legende nach stammte die Kaiserliche Familie von Drachen ab und hatte noch immer Drachenblut in den Adern.
Andererseits war der Spiegeldrache seit über fünfhundert Jahren verschwunden. Niemand wusste genau, wie und warum das geschehen war. Eine Geschichte besagte, vor langer Zeit habe ein Kaiser ihn beleidigt; eine andere berichtete, in einem schrecklichen Kampf zwischen den Geisttieren sei es zur Vernichtung des Spiegeldrachen gekommen. Mein Meister sagte, all diese Geschichten seien bloße Hirngespinste, die die Leute sich am Herdfeuer ausgedacht hätten; die Wahrheit dagegen sei zusammen mit allen Aufzeichnungen dem Vergessen anheim und dem Brand der Spiegeldrachenhalle zum Opfer gefallen. Und er musste es wissen, denn er war – wie der Waffenmeister gesagt hatte – ein großer Geschichtskenner. Sollte es eine alte Variante der Angriffssequenz geben, dann würde er es herausfinden.
Aber zunächst musste ich ihm einen Tag vor der Zeremonie sagen, dass ich die Spiegeldrachensequenz nicht vollenden konnte. Ich zitterte bei dem Gedanken an all die Striemen und blauen Flecke, die mir sein letzter Wutausbruch eingebracht hatte. Ich wusste, dass Verzweiflung ihn dazu verleitete, die Hand gegen mich zu erheben – im letzten Jahrzehnt hatte mein Meister sechs Anwärter ausgebildet und alle waren gescheitert –, doch ich sehnte mich nicht nach seinem Zorn. Ich umklammerte meine Schwerter fester. Ich musste herausfinden, ob der Umgekehrte Zweite Pferdedrachen erlaubt war. Er war meine einzige Chance.
Mein Meister war kein Narr; er würde mich vor der Zeremonie sicher nicht zu hart bestrafen. Zu viel hing davon ab. Und falls seine Schriftrollen bestätigten, was Hian gesagt hat te, blieben mir vor dem Reinigungsritual gut vier Stunden, um die neuen Bewegungen und Übergänge zu trainieren. Das war nicht lange, sollte aber genügen.
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