Drachentochter
die Luft an, wandte mich ab und ging vorsichtig auf die kleine Waffenkammer zu, wobei ich das lahme Bein durch den feinen Sand zog. Dillon hatte allen Grund zur Sorge. Die Anwärter bekämpften sich zwar nicht länger um die Ehre, sich den Spiegeln zu nähern, doch wir mussten unsere Stärke und unser Stehvermögen noch in den zeremoniellen Schwertvorführungen beweisen. Immerhin konnte Dillon die Angriffssequenz vollenden, wenn auch mehr schlecht als recht. Ich dagegen hatte die komplizierten Bewegungsabfolgen des Dritten Spiegeldrachen kein einziges Mal geschafft.
Es hieß, man brauche große körperliche und geistige Kraft, um mit den Energiedrachen zu verhandeln und die Kräfte der Erde zu beeinflussen. Unter den Anwärtern wurde sogar geflüstert, ein Drachenauge übertrage seine Lebenskraft allmählich ganz auf seinen Drachen, um dafür die Energien beherrschen zu können, und dieser Pakt lasse ihn vorzeitig altern. Mein Meister war während des letzten Kreislaufs das Tigerdrachenauge gewesen und nach meiner Einschätzung kaum mehr als vierzig Jahre alt. Dennoch sah er aus wie ein Greis und verhielt sich auch so. Vielleicht stimmte es ja und die Drachenaugen gaben tatsächlich ihre Lebenskraft ab. Vielleicht war mein Meister aber auch nur unter der Last der Armut und des Unglücks gealtert. Und nun riskierte er alles um der bloßen Möglichkeit meines Erfolgs willen.
Ich blickte zurück. Ranne beobachtete, wie Baret die erste Sequenz durchführte. Würde der Rattendrache aus all den starken und gesunden Jungen, die darum buhlten, ihm zu dienen, ausgerechnet mich wählen? Er war der Hüter des Ehrgeizes – möglicherweise würden ihn körperliche Fähigkeiten also nicht beeindrucken. Ich wandte mich nach Nordnordwesten und konzentrierte mich, bis ich den Rattendrachen wie eine Fata Morgana über dem Sand schimmern sah. Als würde er meinen Blick bemerken, bog er den Hals und schüttelte seine dichte Mähne.
Sollte er mich wirklich erwählen, würde ich vierundzwanzig Jahre lang Ansehen und Wohlstand genießen: zunächst als Lehrling des gegenwärtigen Drachenauges und dann, wenn er abdankte, als Gebieter über die Energien meines Drachen. Trotz der zwanzigprozentigen Abgabe an meinen Meister würde ich gewaltige Reichtümer anhäufen. Niemand würde es wagen, mich anzuspucken, sich angewidert von mir abzuwenden oder das Zeichen zur Abwehr des Bösen zu machen.
Sollte mich der Drache nicht erwählen, könnte ich von Glück sagen, wenn mein Meister mich als Diener in seinem Haus behielte. Ich würde wie Chart sein, unser Toilettenjunge, dessen Körper für immer zu einer grausamen Parodie seiner selbst verdreht war. Vor vierzehn Jahren hatte Rilla, eine der unverheirateten Mägde, Chart zur Welt gebracht, und obwohl meinen Meister die Missbildungen des Jungen anwiderten, hatte er ihm erlaubt, in seinem Haus zu wohnen. Chart hatte den Dienstbotentrakt nie verlassen und lebte auf einer Strohmatte neben den Küchenherden. Sollte ich morgen scheitern, konnte ich nur hoffen, dass mein Meister mir dieselbe Gnade erweisen würde. Ehe er mich vor vier Jahren fand, hatte ich in einer Saline gearbeitet. Ich würde mir lieber mit Chart die Strohmatte bei den Küchenherden teilen, als in dieses Elend zurückzukehren.
Ich blieb stehen und dehnte meinen Geist weiter aus, bis meine Energien den Rattendrachen erreichten und ich versuchen konnte, das Bewusstsein des gewaltigen Wesens zu berühren. Ich spürte seine Kraft durch meinen Körper blitzen. Sprich mit mir, bat ich. Sprich mit mir. Erwähle mich morgen. Bitte erwähle mich.
Keine Reaktion.
Ein dumpfer Schmerz in der Schläfe schwoll zu greller Qual. Ich konnte die Drachensicht nicht länger aufrechterhalten. Die Anstrengung war zu groß. Er entglitt meinem geistigen Auge und nahm meine Energie mit. Ich stieß ein Schwert in den Sand, um nicht zu stürzen, und rang nach Luft. Ich Narr! Würde ich es denn nie lernen? Ein Drache sprach einzig und allein mit seinem Drachenauge und dessen Lehrling. Ich holte tief Luft und zog das Schwert aus dem Boden. Warum aber konnte ich dann alle elf Drachen sehen? Schon immer hatte ich meinen Geist auf die Energiewelt richten und die riesigen, halbdurchsichtigen Umrisse der Drachen erkennen können. Warum war mir eine solche Gabe in einem derart hässlichen Körper geschenkt worden?
Ich war erleichtert, den Sand zu verlassen und in den gepflasterten Hof der Waffenkammer zu treten. Die heftigen Krämpfe in meinem Unterleib waren
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