Drei Dichter ihres Lebens
er, aufrecht sitzend, leicht und locker wie ein Kosak auf dem schmalhufigen Pferde gegen den Wald sprengt. Der weiße Bart wellt und weht im Sausen des Windes, weit und wollüstig öffnet er die Lippen, um den Brodem der Felder stärker in sich einzusaugen, Leben, das lebendige, im alternden Leib zu fühlen, und die Wollust des gerüttelten Blutes rauscht ihm warm und süß durch die Adern bis zu den Fingerspitzen und in die dröhnende Muschel des Ohres. Wie er jetzt in den jungen Wald einreitet, hält er plötzlich an, um zu sehen, noch einmal zu sehen, wie an der lenzlichen Sonne die klebrigen Knospen aufgebrochen schimmern und ein dünnes, zittriges Grün, zart wie Stickerei, in den Himmel halten. Mit scharfem Schenkeldruck drängt er das Pferd zu den Birken, sein Falkenauge beobachtet erregt, wie eine hinter der andern, vor und zurück, ein mikroskopisches Paternosterwerk, die Ameisen die Borke entlangziehen, die einen, beladen schon, mit dickem Bauch, die andern noch das Baummehl fassend mit ihren winzigen Filigranzangen. Minutenlang steht er reglos begeistert, der greise Patriarch, und blickt auf das Winzige im Ungeheuren, Tränen strömen ihm warm in den Bart. Wie wunderbar das ist, seit mehr als siebzig Jahren immer wieder neu wunderbar, dieser Gottesspiegel der Natur, still und sprechend zugleich, ewig von andern Bildern erfüllt, allzeit belebt und weiser in seiner Stille als alle Gedanken und Fragen. Unter ihm schnaubt ungeduldig das Pferd. Tolstoierwacht aus seiner sinnenden Versunkenheit, drückt der Stute kräftig die Schenkel an die Flanken, um nun im Sausen des Windes nicht bloß das Kleine und Zärtliche, sondern auch Wildheit und Leidenschaft der Sinne zu fühlen. Und er reitet und reitet und reitet, glücklich und gedankenlos, reitet zwanzig Werst, bis schon glänzender Schweiß die Flanke der Stute weiß überschäumt. Dann lenkt er sie heimwärts in ruhigem Trab. Seine Augen sind ganz licht, seine Seele leicht, er ist glücklich und froh wie als Knabe in denselben Wäldern, auf demselben seit siebzig Jahren vertrauten Weg, der alte, uralte Mann.
Aber in der Nähe des Dorfes verfinstert sich plötzlich das übersonnte Gesicht. Sein fachmännischer Blick hat die Felder geprüft: hier liegt inmitten seines Gutsbereiches eins schlecht gehalten, verwahrlost, der Zaun abgefault und zur Hälfte wahrscheinlich verheizt, der Boden nicht gepflügt. Zornig reitet er heran, Auskunft zu fordern. Aus der Türe tritt barfüßig, mit versträhntem Haar und geducktem Blick eine schmutzige Frau; zwei, drei kleine, halbnackte Kinder drängen ängstlich nach an ihrem zerschlissenen Rock, und von rückwärts aus der niederen, rauchigen Hütte quäkt noch ein viertes. Gerunzelter Stirn forscht er nach dem Grund der Verwahrlosung. Die Frau flennt zusammenhanglose Worte, seit sechs Wochen sei ihr Mann im Gefängnis, verhaftet wegen Holzdiebstahls. Wie sollte sie sorgen ohne ihn, den Starken und Fleißigen, und er habe es doch nur aus Hunger getan, der Herr wisse ja selbst: die schlechte Ernte, die hohen Steuern, die Pacht. Die Kinder, ihre Mutter flennen sehend, beginnen mitzuheulen, hastig greift Tolstoi in die Tasche und reicht, um jede weitere Erörterung abzuschneiden, ihr ein Geldstück hin. Dann reitet er rasch, ein Flüchtling, davon. Sein Antlitz ist düster, seine Freude verflogen. »Das also geschieht auf meinem – nein, auf dem Grunde, den ich meiner Frau und meinen Kindern geschenkt habe. Aber warum verstecke ich immer feig hinter meine Frau Mitwissen und Schuld? Ein Lügenspiel vor der Welt, nichts sonst war jene Vermögensüberweisung; denn genau, wie ich selbst von Bauernfron satt geworden bin, saugen jetzt die Meinen aus dieser Armut ihr Geld. Ich weiß doch: von dem Neubau des Hauses, in dem ich sitze, ist jeder Ziegel aus dieser Leibeigenen Schweiß gebacken, ihr steingewordenes Fleisch, ihreArbeit. Wie durfte ich meiner Frau und meinen Kindern schenken, was mir nicht gehörte, die Erde jener Bauern, die sie pflügen und bestellen. Schämen muß ich mich vor Gott, in dessen Namen ich, Leo Tolstoi, immer Gerechtigkeit den Menschen predige, ich, dem täglich fremdes Elend in die Fenster sieht.« Ganz zornig ist sein Antlitz geworden und verdunkelt sich noch mehr, wie er jetzt an den steinernen Säulen vorbei in den »Herrensitz« einreitet. Der livrierte Lakai und der Reitknecht stürzen aus der Tür, um ihm vom Pferd zu helfen. »Meine Sklaven«, höhnt ingrimmig von innen die selbstanklägerische
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