Drei Dichter ihres Lebens
Ruhmsucht und Freude am Weihrauch. In sehr durchsichtiger Verhüllung schildert er in jenem Heiligen seine eigne Situation in Jasnaja Poljana: wie zu ihm selbst die Gläubigen, die Neugierigen, die Pilger der Bewunderung, wandern zu jenem wundertätigen Mönch Hunderte Büßer und Verehrer. Aber gleich Tolstoi selbst fragt sich inmitten des Tumults seiner Anhänger, dieser Doppelgänger seines Gewissens, ob er, den alle als Heiligen verehren, tatsächlich heiligen Herzens lebe; er fragt sich: »In welchem Maße geschieht, was ich tue, Gott zuliebe und inwieweit nur um der Menschen willen?« Und zerschmetternd antwortet Tolstoi sich selbst durch Vater Sergius:
»Er fühlte in der Tiefe seiner Seele, daß der Teufel sein Wirken um Gottes willen durch ein anderes, nur auf denRuhm bei den Menschen abgesehenes, vertauscht hatte. Er fühlte das; denn wie es ihm früher wohlgetan hatte, wenn man ihn nicht aus seiner Einsamkeit aufstörte, so war ihm jetzt diese Einsamkeit eine Qual. Er fühlte sich durch die Besucher belästigt, sie machten ihn müde, doch in seinem innersten Herzen freute er sich über sie, freute sich über die Lobpreisungen, mit denen sie ihn überhäuften. Es blieb ihm immer weniger Zeit zu seelischer Stärkung und Gebet, mitunter dachte er, er sei einem Platze ähnlich, an dem eine Quelle gesprudelt hatte, eine schwache Quelle lebendigen Wassers, die aus ihm und durch ihn strömte; jetzt aber kann sich das Wasser nicht mehr ansammeln, wenn die Dürstenden herandrängen und einander stoßen, und sie haben alles zerstampft, es ist nur Schmutz übriggeblieben ... Es war jetzt keine Liebe mehr in ihm, keine Demut und auch keine Reinheit.«
Kann man furchtbarere Verurteilung sich erdenken als diese schneidende Selbstzurückweisung, die jede mögliche Vergötterung für immer erledigen soll? Mit diesem Bekenntnis zertrümmert Tolstoi für immer das für Lesebücher schon gestanzte Klischee des heiligen Mannes von Jasnaja Poljana; wie erschüttert zeigt sich das zerfleischte Gewissen eines brüchigen, unsicheren Menschen, der unter der Last seiner selbst aufgeladenen Verantwortung zusammenbricht, statt der Aureole des Heiligen. Die Bewunderung einer Welt, die scharwenzelnde Verhimmelung seiner Jünger, die Pilgerzüge jedes einzelnen Tags, all diese lärmenden und berauschenden Zustimmungen vermochten diesen mißtrauischen Geist, dieses unbestechliche Gewissen darüber nicht zu täuschen, wieviel Theatralisches in diesem literarisch aufgezogenen Christentum, wieviel Ruhmsucht in den eigenen Demütigungen versteckt war. Doch unersättlich in seiner Grausamkeit gegen sich selbst, bezweifelt in dieser symbolischen Autopsie Tolstoi die Ehrlichkeit sogar seines ersten Willens. Ganz ängstlich fragt er weiter durch seines Doppelgängers Mund: »Aber war nicht wenigstens eine ehrliche Absicht, Gott zu dienen, vorhanden?« Doch abermals schlägt die Antwort alle Pforten der Heiligkeit zu. »Ja, sie war vorhanden, aber alles ist beschmutzt und von Ruhm überwuchert. Es gibt keinen Gott für einen, der so gelebt hat wie ich um des Ruhmes vor den Menschen willen.« Er hat den Glauben vertan durch zu viel Reden und Tragieren der Gläubigkeit. Die Theaterposevor der versammelten Literatur Europas, die pathetischen Gemeindebeichten statt einer schweigenden Demut, dies hat, so fühlt und bekennt hellseherisch Tolstoi, ihm seine vollkommene Heiligung unmöglich gemacht. Erst wenn er der Welt, dem Ruhm, der Eitelkeit entsagt, wird Vater Sergius, sein Gewissensbruder, sich seinem Gotte nähern; und es ist sein Wort, wenn er ihn sehnsüchtig am Ende seiner Irrfahrten sagen läßt: »Ich will ihn suchen.«
»Ich will ihn suchen« – nur dies Wort enthält Tolstois wahrsten Willen –, sein wirkliches Schicksal: kein Gottfinder zu sein, nur Gottsucher. Er ist kein Heiliger gewesen, kein welterlösender Prophet, nicht einmal ein vollkommen eindeutig ehrlicher Gestalter seines Lebens: er ist immer Mensch geblieben, großartig in manchen Augenblicken und in den nächsten wieder unwahrhaftig und eitel. Ein Mensch mit Schwächen, Unzulänglichkeiten und Zweideutigkeiten, aber immer dieser Fehler tragisch bewußt und mit einer Leidenschaftlichkeit ohnegleichen um Vollendung bemüht. Kein Heiliger, aber ein heiliger Wille, kein Gläubiger, aber eine titanische Glaubenskraft, Bildnis nicht des Göttlichen, das still gefaßt und beendet in sich ruht, sondern Symbol einer Menschheit, die nie befriedigt rasten darf auf ihrem Wege,
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