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Drei Dichter ihres Lebens

Drei Dichter ihres Lebens

Titel: Drei Dichter ihres Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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seine Gedanken unter die Menschen verstreut, und niemand weiß, ob es die seinen oder die eigenen sind, die er ausspricht.« Und um abzulenken, muntert er die anderen auf: »Gehen wir ein wenig in den Park.«
    Aber zuvor noch ein kleiner Halt. Unter der uralten Ulme, gegenüber der Schloßtreppe, an dem »Baum der Armen«, warten die Besucher aus dem Volk, die Bettler und Sektierer, die »Finsteren« auf Tolstoi. Zwanzig Meilen sind sie hergepilgert, Rat zu holen oder etwas Geld. Sonnverbrannt, müde, mit verstaubten Schuhen stehen sie da. Wie der »Herr«, der »Barin«, nun naht, beugen sich einige russisch bis zur Erde. Mit raschem, wehendem Schritt tritt Tolstoi auf sie zu. »Habt ihr Fragen?« »Ich wollte fragen, Erlaucht ...« »Ich bin nicht erlaucht, niemand ist erlaucht als Gott«, fährt Tolstoi ihn an. Das Bäuerlein dreht erschrocken die Mütze, endlich haspelt es umständliche Fragen heraus, ob wirklich die Erde nun den Bauern gehören sollte, und wann er sein Stück Feld für sich bekommen werde? Tolstoi antwortet ungeduldig, alles Unklare erbittert ihn. Dann kommt ein Förster an die Reihe mit allerhand Gottesfragen. Ob er lesen könne, fragt ihn Tolstoi, und als er bejaht, läßt er die Schrift »Was sollen wir tun?« holen und verabschiedet ihn. Dann drängen Bettler heran, einer nach dem andern. Rasch fertigt Tolstoi sie mit einem Fünfkopekenstück ab, ungeduldig schon. Wie er sich umwendet, bemerkt er, daß der Journalist ihn während der Verteilung photographiert hat. Wieder verdüstert sich sein Gesicht: »So bilden sie mich ab, Tolstoi, den Gütigen, bei den Bauern, den Almosenspender, den edlen, hilfreichen Mann. Aber der mir ins Herz sehen könnte, der wüßte, ich war nie gut, ich versuchte bloß, das Gutsein zu lernen. Nichts als mein Ich hat mich wahrhaft beschäftigt. Ich war nie hilfreich, in meinem ganzen Leben habe ich nicht die Hälfte dessen an die Armen verschenkt, was ich früher in Moskau in einer einzigen Nacht bei den Karten verspielte. Nie ist es mir eingefallen, Dostojewski, von dem ich wußte, daß er hungerte, die zweihundert Rubel zu schicken, die ihn erlöst hättenfür einen Monat oder vielleicht für immer. Und dennoch dulde ich, daß man mich feiert und rühmt als den edelsten Menschen, und weiß innen doch genau, daß ich erst im Anfang des Anfanges stehe.«
    Es drängt ihn schon zu dem Spaziergang im Park, und so ungeduldig läuft das flinke alte Männchen mit dem flatternden Bart, daß die anderen kaum folgen können. Nein, jetzt nicht viel reden mehr: nur die Muskeln fühlen, die Geschmeidigkeit der Sehnen, ein wenig hinblicken auf das Tennisspiel der Töchter, die Unschuld des flinken körperlichen Spiels. Interessiert folgt er jeder Bewegung und lacht stolz bei jedem gelungenen Schlag, seine düstere Laune lockert sich auf, er plaudert und lacht, mit helleren beruhigteren Sinnen wandert er durch das weicher duftende Moos dahin. Aber dann wieder zurück in das Arbeitszimmer, ein wenig lesen, ein wenig ruhen: manchmal fühlt er sich schon recht müde, und die Beine werden ihm schwer. Wie er so allein liegt auf dem wachsledernen Sofa, die Augen geschlossen, und sich matt spürt und alt, denkt er im stillen: »Es ist doch gut so: wo ist die Zeit, die schreckliche, da ich mich noch vor dem Tode fürchtete wie vor einem Gespenst, mich vor ihm verstecken und verleugnen wollte. Jetzt habe ich keine Angst mehr, ja, ich fühle mich wohl, ihm so nahe zu sein.« Er lehnt sich zurück, die Gedanken schwärmen in der Stille. Manchmal zeichnet er mit dem Bleistift rasch ein Wort auf, dann bückt er lange und ernst vor sich hin. Und es ist schön, das Antlitz des alten Mannes, umwölkt von Sinnen und Traum, allein mit sich und mit seinen Gedanken.
    Abends dann noch einmal hinab in den gesprächigen Kreis: ja, die Arbeit ist getan. Freund Goldenweiser, der Pianist, fragt, ob er etwas vorspielen dürfe. »Gern, gern!« Tolstoi lehnt am Klavier, die Hände über die Augen geschattet, damit niemand sehe, wie die Magie des verbundenen Klangs ihn ergreife. Er lauscht, die Lider geschlossen und tiefatmender Brust. Wunderbar, die Musik, die so laut verleugnete, wunderbar strömt sie ihm zu, alles Weiche auflockernd, sie macht nach all den schweren Gedanken die Seele wieder lind und gut. »Wie durfte ich sie schmähen, die Kunst«, denkt er still in sich hinein. »Wo ist Tröstung, wenn nicht bei ihr? Alles Denken verdüstert, alles Wissen verstört, und Gottes Gegenwart, wo anders

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