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Drei Meister. Balzac – Dickens – Dostojewski

Drei Meister. Balzac – Dickens – Dostojewski

Titel: Drei Meister. Balzac – Dickens – Dostojewski Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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friedfertige bescheidene Idylle; aber alle Romane, die vortrefflichen wie die unlesbaren, haben dies Merkmal einer verschwenderischen Vielfalt. Und alle haben sie, selbst die wildesten und melancholischsten, in den Felsen der tragischen Landschaft kleine Lieblichkeiten wie Blumen eingesprengt. Überall blühen diese unvergeßlichen Anmutigkeiten: wie kleine Veilchen, bescheiden und versteckt, warten sie im weitgesteckten Wiesenplan seiner Bücher, überall sprudelt die klare Quelle sorgloser Heiterkeit klingend von dem dunkeln Gestein der schroffen Geschehnisse nieder. Es gibt Kapitel bei Dickens, die man nur Landschaften in ihrer Wirkung vergleichen kann, so rein sind sie, so göttlich unberührt von irdischen Trieben, so sonnig blühend in ihrer heiteren milden Menschlichkeit. Um ihretwillen schon müßte man Dickens lieben, denn so verschwenderisch sind diese kleinen Künste verstreut in seinem Werk, daß ihre Fülle zur Größe wird. Wer könnte alleinseine Menschen aufzählen, alle diese krausen, jovialen, gutmütigen, leicht lächerlichen und immer so amüsanten Menschen? Sie sind aufgefangen mit all ihren Schrullen und individuellen Eigentümlichkeiten, eingekapselt in die seltsamsten Berufe, verwickelt in die ergötzlichsten Abenteuer. Und so viele sie auch sind, keiner ist dem andern ähnlich, sie sind minuziös bis ins kleinste Detail persönlich herausgearbeitet, nichts ist Guß und Schema an ihnen, alles Sinnlichkeit und Lebendigkeit, sie alle sind nicht ersonnen, sondern gesehen. Gesehen von dem ganz unvergleichlichen Blick dieses Dichters.
    Dieser Blick ist von einer Präzision sondergleichen, ein wunderbares, unbeirrbares Instrument. Dickens war ein visuelles Genie. Man mag jedes Bildnis von ihm, das der Jugend und das (bessere) der Mannesjahre betrachten: es ist beherrscht von diesem merkwürdigen Auge. Es ist nicht das Auge des Dichters, in schönem Wahnsinn rollend oder elegisch umdämmert, nicht weich und nachgiebig oder feurig-visionär. Es ist ein englisches Auge: kalt, grau, scharfblinkend wie Stahl. Und stählern war es auch wie ein Tresor, in dem alles unverbrennbar, unverlierbar, gewissermaßen luftdicht abgeschlossen ruhte, was ihm irgendeinmal, gestern oder vor vielen Jahren von der Außenwelt eingezahlt worden war: das Erhabenste wie das Gleichgültigste, irgendein farbiges Schild über einem Kramladen in London, das der Fünfjährige vor undenklicher Zeit gesehen, oder ein Baum mit seinen aufspringenden Blüten gerade drüben vor dem Fenster. Nichts ging diesem Auge verloren, es war stärker als die Zeit; sparsam reihte es Eindruck an Eindruck im Speicher des Gedächtnisses, bis der Dichter ihn zurückforderte. Nichts rann in Vergessenheit, wurde blaß oder fahl, alles lag und wartete, blieb voll Duft und Saft, farbig und klar, nichts starb ab oder welkte. Unvergleichlich ist bei Dickens das Gedächtnis des Auges. Mit seiner stählernen Schneide zerteilt er den Nebel der Kindheit; in »David Copperfield«, dieser verkappten Autobiographie, sind Erinnerungen des zweijährigen Kindes an die Mutter und das Dienstmädchen mit Messerschärfe wie Silhouetten vom Hintergrund des Unbewußten losgeschnitten. Es gibt keine vagen Konturen bei Dickens; ergibt nicht vieldeutige Möglichkeiten der Vision, sondern zwingt zur Deutlichkeit. Seine darstellende Kraft läßt der Phantasie des Lesers keinen freien Willen, er vergewaltigt sie (weshalb er auch der ideale Dichter einer phantasielosen Nation wurde). Stellt zwanzig Zeichner vor seine Bücher und verlangt die Bilder Copperfields und Pickwicks: die Blätter werden sich ähnlich sehen, werden in unerklärlicher Ähnlichkeit den feisten Herrn mit der weißen Weste und den freundlichen Augen hinter den Brillengläsern oder den hübschen blonden, ängstlichen Knaben auf der Postkutsche nach Yarmouth darstellen. Dickens schildert so scharf, so minuziös, daß man seinem hypnotisierenden Blicke folgen muß; er hatte nicht den magischen Blick Balzacs, der die Menschen der feurigen Wolke ihrer Leidenschaften sich erst chaotisch formend entringen läßt, sondern einen ganz irdischen Blick, einen Seemanns-, einen Jägerblick, einen Falkenblick für die kleinen Menschlichkeiten. Aber Kleinigkeiten, sagte er einmal, sind es, die den Sinn des Lebens ausmachen. Sein Blick hascht nach kleinen Merkzeichen, er sieht den Flecken am Kleid, die kleinen hilflosen Gesten der Verlegenheit, er faßt die Strähne roten Haares, die unter einer dunkeln Perücke hervorlugt,

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