Drüberleben
ein Hass auf sie überrollte mich, ein Hass auf ihr Weinen, das eigentlich mir gehören sollte, ein Hass auf ihre Enttäuschung, die eigentlich meine war.
Mir fielen all diese Momente ein, in denen ich alles genommen hatte, was sie mir hingeworfen hatten. Die Kleidung, die Reisen, das Kleid für den Abiturball. Das Taschengeld, die Weihnachtsgeschenke, die Uhren und Ohrringe, die Restaurants und Ausflüge. Alles hatte gekostet, hatte so viel gekostet, dass meine Eltern irgendwann angefangen hatten zu glauben, dass sie den Preis bezahlt hatten, den eine glückliche Tochter kostete.
» Wir wollten dich damals nicht besuchen, weil es dort hässlich ist. Hässlich und deprimierend. Und wir unsere Tochter nicht in so einer… Einrichtung sehen«, sagte meine Mutter vorsichtig.
» In welcher Einrichtung denn sonst? In einer Universität? Umringt von klugen, interessanten Menschen? Im Vorstand der Sparkasse?«
» Glücklich, Ida, glücklich wollen wir dich sehen«, schluchzte sie und machte Anstalten aufzustehen.
» Nein, Mama, du stehst jetzt nicht auf. Wir klären das jetzt. Das hätten wir eigentlich schon vor sehr, sehr langer Zeit machen sollen. Wisst ihr, wie ich lebe? Ich lebe gar nicht, kein bisschen, null. Ich vegetiere in meiner Wohnung vor mich hin und bin nicht in der Lage rauszugehen. Seit vier Jahren nehme ich immer wieder Tabletten. Ich trinke Schnaps zum Frühstück, damit ich nicht merken muss, dass ich das alles alleine gar nicht mehr schaffe. Dass ich versagt habe, so phänomenal versagt, dass ich den ganzen Tag nur kotzen könnte. Ich könnte kotzen bei dem Gedanken, dass ich noch immer achtzehn bin und die letzten sechs Jahre einfach nur eine Alterung meines Körpers waren, denn ich bin im Grunde keinen einzigen Schritt vorangekommen. Ich bin ausgezogen, weil ich unbedingt wollte, und in eine Welt gefallen, die Menschen wie mich nicht haben will. Ich bemitleide mich vierundzwanzig Stunden am Tag selbst und kann nicht aufhören, mir das ganze Mitleid zu geben, das ich nie, niemals von euch bekommen habe. Ich will nicht euer Auto, ich will euer Mitleid! Ich will, dass sich endlich mal jemand darum kümmert, dass ich verdammt noch mal nicht klarkomme. Dass ich verdammt noch mal einsam bin und dass ich keine Haut habe, keine im metaphysischen Sinn. Ich bin nackt, Mama! Nackt und ekelhaft und allein.«
Während ich die letzten Sätze nur noch zwischen ersticktem Schluchzen und dem kläglichen Versuch, auf den Punkt zu kommen, hervorgewürgt hatte, waren meine Eltern still geworden. Sie sahen auf ihre Hände, als läge in ihnen die Möglichkeit einer Rettung. Einer Rettung der Situation und einer Rettung des Menschen, der hier vor ihnen saß und verzweifelt nach dem Haken schrie, der ihn aus dem Dreck zog.
Mein Vater hob langsam den Kopf und sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. » Ich habe es so satt, Ida. Seit Jahren das Gleiche. Irgendwas ist immer. Du kannst nicht glücklich sein? In Ordnung, dann sei eben unglücklich. Aber wir haben alles getan, um dir zu helfen. Wir waren immer da, wenn du Hilfe benötigtest. Das war vielleicht nicht die Art Hilfe, die du wolltest, aber vielleicht ist es auch einfach so, dass dir keine Art von Hilfe reicht. Ich bin es leid, mir Sorgen um dich machen zu müssen. Ich bin müde. Ich habe keine Kraft mehr für die Tatsache, dass mein eigenes Kind mit Mitte zwanzig noch immer nicht verstanden hat, dass man bestimmte Dinge auch einfach mal so akzeptieren muss, wie sie sind. Ich weiß nicht, ob es an Julia liegt oder ob du vielleicht einfach schon immer so warst. Was ich aber weiß ist, dass du uns alle vergiftest. Du jagst uns deine Angst und deine Traurigkeit wie Gift ins Fleisch, und wenn wir dann auch mal nicht mehr können, dann hasst du uns umso mehr. Und ich kann jetzt nicht mehr. Hier kann niemand mehr. Nimm das Auto und fahr. Komm nicht wieder her. Ich will dich hier nicht mehr sehen.« Mein Vater stand auf.
Meine Mutter schüttelte still und traurig den Kopf und folgte ihm aus der Küche. Ich blieb allein, allein mit den Worten auf dem Tisch, die jetzt zu viele waren, um sie zurück in den Mund und in den Kopf zu stecken.
Dreißig
D ie Autobahn ist ungewöhnlich überfüllt, und ich spüre deutlich die ungewohnte Anstrengung, ein Auto zu fahren, auf die anderen zu achten, nach vorne zu sehen, obschon ich am liebsten nur nach hinten blicken würde. Oder die Augen schließen möchte, die sich unablässig mit Tränen füllen, als hätte dieser Tag nichts
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