Drüberleben
dahinrotzen, dahinschmeißen, es zerlegen, sezieren, du kannst jeden verdammten Augenblick auseinandernehmen und untersuchen, du kannst nächtelang darüber reden, wann es passiert ist, wann es noch mal passiert ist, dass du dich so furchtbar erschrocken hast vor der Welt, vor den Menschen, vor diesem Unfall, vor diesem einen Moment, dass du seitdem ständig das Gefühl hast, nicht mehr richtig gehen zu können, nicht mehr schnell genug sprechen zu können, nicht mehr beschützt zu sein, nichts mehr einfach so machen zu können, nichts mehr einfach so machen zu können– » einfach«?, nie gehört. Du kannst immerzu und an jedem Ort darüber sprechen, kannst Worte erbrechen, kannst behaupten und vermuten, kannst laut denken und leise sprechen, kannst es flüstern und kannst einfach deinen Mund nicht halten, aber niemals wird dir jemand sagen können, warum du, genau du in diesem Moment einfach nicht mehr funktionierst, warum du an diesem Tag diese eine Sache gemacht hast, die diese andere Sache ausgelöst hat, die wiederum diese weitere Sache hervorgerufen hat, und warum all diese Sachen dich zu diesem Moment gebracht haben, der dazu geführt hat, dass sich die Schwere und die Stille in dein Leben geschlichen haben, wie geruchloses Gas in eine Wohnung, in der du ruhig schläfst und nichts riechst und nichts schmeckst und gar nicht bemerkst, wie du vergiftet wirst.
Niemand kann es dir sagen, und kein Wort wird helfen, versprochen.
Du sitzt bloß da und redest. Du sitzt bloß da und redest und vermutest, und manchmal vermutet jemand mit, und manchmal glaubt sogar jemand, und immer öfter weiß auch mal jemand etwas zu sagen, das du dann aufgreifst, angreifst, mitnimmst, ausprobierst, dir in den Gedanken-Tank kippst, denn du willst ja nicht so sein, du willst ja schneller sein, du willst ja nicht immer müde sein, immer traurig sein, immer ängstlich sein, immer so am Ende sein, immer heulen, immer wieder von vorne anfangen müssen. Du willst ja nicht jeden Morgen das Gefühl haben, dass du schon wieder ganz neu beginnen musst, dass jeder Tag so unvorstellbar riesig und unbezwingbar groß ist, dass du ihn gar nicht besiegen kannst, diesen Tag, du willst nicht jeden Morgen aufwachen und das Gefühl haben, dass du viel zu klein für so große Tage und für so große Aufgaben bist, du willst lieber einfach weitermachen, so wie die anderen, du willst in diesen warmen Fluss zurück, in dem man einfach herumschwimmt und mitschwimmt und mitmacht und morgens aufwacht und einfach aufsteht und weitermacht. Keine Neuanfänge mehr, sondern nur noch Anschlüsse an das Gestern, an das Vorgestern, an irgendwann letzten Monat.
Du nimmst jeden Ratschlag, jede Meinung, jeden Tipp, all diese Worte nimmst du mit nach Hause, und du probierst sie alle aus.
Du gehst mal wieder raus.
Du machst mal wieder Sport.
Du isst keinen Weizen mehr, keinen Zucker, keine Milchprodukte, kein Fleisch, keine künstlichen Zusatzstoffe.
Du trinkst keinen Alkohol, keinen Kaffee und nur noch Wasser aus Vulkansteinquellen.
Du machst Yoga.
Du liest Bücher.
Du redest darüber.
Du fährst in den Urlaub.
Du hast mal wieder Sex.
Du gehst spazieren.
Du streichelst Tiere.
Du meditierst.
Du bist nett.
Du bist so verdammt nett.
Du hast eine Struktur.
Du hast einen Tagesplan.
Du hast also Pläne, und du probierst alles aus. Das machst du. Und du hast Hoffnung. Du hast echt verdammt viel Hoffnung, dass das eines Tages wieder weggehen wird. Die Angst. Die Müdigkeit. Diese ständige, bleierne Müdigkeit.
Bis hierhin hat schon mindestens einer von Therapie gesprochen. Dass ihm das » echt viel gebracht« hat. Dass das » gar nicht so schlimm« ist, » wie alle immer sagen«. Er könne dir da auch eine Telefonnummer geben. Einfach mal hingehen. Ein bisschen reden. Du siehst so müde aus in letzter Zeit. Du siehst so abgekämpft aus in letzter Zeit. Du siehst so aus, als bräuchtest du echt mal jemanden zum Reden. Du hast genickt. Ja, warum nicht. Jeder braucht ja mal jemanden zum Reden. Manchmal hast du dich gefragt, warum du nicht einfach mit den anderen weiterreden kannst. Wo die doch schon mal da waren. Aber du hast weiter genickt. Immer alles abgenickt. Hilfe, hast du gedacht, kriegt man ja überall. Wieso nicht einfach alles nehmen, was man kriegen kann. Wieso nicht alles kriegen, was man nehmen kann.
Die Erde dreht sich trotzdem weiter mit 0,463 km/s. Sie rotiert vierundzwanzig Stunden am Tag. Je näher man dem Äquator kommt, desto leichter kann
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