Du bist in meiner Hand
Großmutter ebenfalls ums Leben gekommen war.
Ahalya watete durch das Wohnzimmer hinüber in die Küche und betete dabei inständig, Jaya möge überlebt haben. Die Haushälterin hatte bereits vor Ahalyas Geburt zur Familie Ghai gehört.
Als Ahalya nun mit der apathischen Sita im Schlepptau die Küche betrat, fand sie dort ein wüstes Durcheinander vor. Umgefallene Körbe, Behälter mit Reinigungsmitteln, Glasgefäße voller Süßigkeiten, Mangos, Papayas und Kokosnüsse trieben im stehenden Wasser. Unter der Oberfläche lagen Töpfe, Pfannen, Schüsseln und Silberbesteck wie gesunkene Wracks über den Boden verstreut. Von Jaya aber fehlte jede Spur.
Ahalya wollte die Küche bereits wieder verlassen, um im Wohnzimmer weiterzusuchen, als ihr auffiel, dass die Holztür zur Speisekammer einen Spalt offen stand. Sie sah die Hand, bevor ihre Schwester sie entdeckte, und schob die Tür ganz auf. Dort lag die tote Jaya eingekeilt in der Enge der kleinen Kammer. Etwas Friedliches umgab sie. Sie hatte die Augen geschlossen und sah aus, als schliefe sie nur. Trotzdem war ihre Haut kalt und klamm, als die Mädchen sie berührten.
Das Schwindelgefühl überfiel Ahalya ohne Vorwarnung. Beinahe wäre sie ohnmächtig geworden. Während sie dort im wadentiefen Wasser stand, traf die Wahrheit sie hart wie ein körperlicher Schlag: Sie und Sita waren nun Waisen. Die einzigen lebenden Verwandten, die sie noch hatten, waren Tanten und Cousins und Cousinen im fernen Delhi, die sie schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatten.
Ahalya gab sich einen Ruck und führte ihre Schwester die Stufen zu ihrem Schlafzimmer hinauf.
Die Flutwelle war bis über die Treppe gestiegen, sodass auch im ersten Stock eine Schlammschicht den Boden bedeckte, aber die Fenster und Möbel waren unbeschädigt geblieben. Ahalyas ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf ein einziges Ziel: die Tasche, in der sich ihr Handy befand. Wenn sie es schaffte, Schwester Naomi zu erreichen und mit Sita bis in die Klosterschule von St. Mary’s in Tiruvallur zu gelangen, waren sie gerettet.
Sie entdeckte ihre Tasche mit dem Handy auf dem Nachttisch und tippte eilig Schwester Naomis Nummer ein. Während das Telefon läutete, hörte sie ein fernes, aus Richtung Osten kommendes Rauschen. Ahalya blickte durch das Fenster auf die mit schlammbraunen Flecken übersäte Fläche des Golfs von Bengalen hinaus und wollte ihren Augen nicht trauen: Eine weitere Wasserwand walzte auf den Strand zu. Binnen weniger Sekunden steigerte sich das Rauschen zu einem grollenden Tosen und übertönte die Stimme am anderen Ende der Leitung. »Hallo? Hallo? Ahalya? Sita?« Ahalya vergaß Schwester Naomi. In ihrer Welt gab es nur noch ihre Schwester und die zweite todbringende Welle.
Die tosenden Wassermassen erreichten das Haus und überfluteten das Erdgeschoss. Das Gebäude bebte und ächzte, während die Welle sich gegen sein Fundament warf. Ahalya schlug die Schlafzimmertür zu und scheuchte Sita aufs Bett. Sie schlang die Arme um ihre zitternde kleine Schwester und fragte sich, ob Shiva beschlossen hatte, die Welt nicht mit Feuer, sondern mit Wasser zu vernichten.
Der Schrecken der zweiten Welle schien kein Ende zu nehmen. Brackiges Wasser quoll durch den Spalt unter der Schlafzimmertür und breitete sich fächerförmig über den Boden aus. Die Schwestern kauerten aneinandergedrängt auf dem Bett, während das Wasser stieg. Plötzlich schien sich das Haus unter ihnen zu bewegen, und der Boden neigte sich. Die Schlafzimmertür flog auf, und braunes Wasser strömte herein. Ahalya kreischte entsetzt auf, während Sita den Kopf im feuchten Stoff von Ahalyas schlammverschmiertem Churidar vergrub. Ahalya schloss die Augen und bat Lakshmi in einem stummen Gebet, ihre Schwester und sie von ihren Sünden freizusprechen und sicher ins nächste Leben zu geleiten.
In ihrem losgelösten Zustand bekam sie kaum mit, dass das Tosen langsam nachließ und schließlich ganz aufhörte. Das Haus hielt auch dann noch stand, als die Strömung die Richtung wechselte und die zweite Flutwelle sich wieder ins Meer zurückzog. Die beiden Schwestern blieben wie versteinert auf dem Bett sitzen. Die verwüstete Welt, die die Welle zurückließ, schien auf unheimliche Weise aller Geräusche beraubt.
»Ahalya?«, flüsterte Sita nach einer ganzen Weile. »Wo sollen wir denn jetzt hin?«
Ahalya blinzelte. Langsam konnte sie wieder einen klaren Gedanken fassen. Behutsam löste sie sich von ihrer Schwester und spürte das
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