Du bist in meiner Hand
die dunklen Schatten und rang nach Luft. Schlagartig begriff sie.
»Idhar aavo!«, befahl sie Sita auf Hindi. »Komm!«
Sie nahm ihre Schwester an der Hand und führte sie durch das knietiefe Wasser. Der erste Leichnam, auf den sie stießen, war der von Ambini. Ihr Körper war mit Schlamm bedeckt und jeder freiliegende Zentimeter Haut von Dornen durchbohrt. Ihre Augen standen offen, und ihr Gesicht war eine einzige Maske des Grauens.
Der Anblick ihrer Mutter ließ Sita zu Stein erstarren. Sie umklammerte die Hand ihrer großen Schwester so fest, dass diese vor Schmerz aufschrie und sich mit einer heftigen Bewegung aus ihrem Griff befreite. Ahalya sank weinend auf die Knie, während Sita nur fassungslos zu Boden starrte. Erst nach einem langen Augenblick brach auch sie in Schluchzen aus. Sie barg das Gesicht in beiden Händen und begann am ganzen Leib krampfhaft zu zittern.
Ahalya schlang die Arme um ihre Schwester und drückte sie eine Weile an sich. Dann führte sie sie weg von Ambini. Es dauerte nicht lange, bis sie auf einen weiteren Toten stießen, einen von den Jungen aus der Gegend. Sita wurde wieder ganz starr vor Entsetzen, sodass Ahalya sie fast tragen musste, während sie sich durch den Schlamm, der einmal der Strand gewesen war, auf das Haus der Familie zubewegten. Ahalya wusste, dass ihre einzige Hoffnung darin bestand, ihren Vater zu finden.
Wäre Sita nicht gestolpert, hätten sie Nareshs Leichnam vermutlich übersehen. Als Ahalya sich zu ihrer Schwester hinunterbeugte, um ihr aufzuhelfen, bemerkte sie landeinwärts auf den Resten einer Salzwasserlagune einen weiteren dunklen Umriss. Naresh war von der Welle durch den Palmenhain gespült worden und am Rand der Lagune zwischen ein paar Felsblöcken hängen geblieben.
Ahalya zerrte ihre Schwester die kurze Strecke bis zu ihrem Vater. Einen langen Moment starrte sie den Toten fassungslos an. Dann begriff sie allmählich und schluchzte auf. Ihr Vater konnte einfach nicht tot sein; nicht er, der ihr doch so vieles für die Zukunft versprochen hatte.
»Schau«, flüsterte Sita und deutete dabei in Richtung Süden.
Ahalya wischte sich die Tränen aus den Augen und folgte dem Blick ihrer Schwester, hinweg über eine fremde, von der Welle kahl gewaschene Welt. In der Ferne stand ihr Haus. Der Anblick der vertrauten Silhouette überraschte Ahalya ebenso wie die plötzliche Stille ihrer Schwester. Sita hatte zu weinen aufgehört und beide Arme schützend um sich geschlungen. Ahalya sah den gequälten Ausdruck in ihren Augen, dennoch versuchte sie, neuen Mut zu fassen. Vielleicht hatten Jaya oder ihre Großmutter überlebt. Die Vorstellung, dass sie und Sita womöglich ganz allein zurückgeblieben waren, erschien ihr unerträglich.
Mühsam wateten die beiden Mädchen weiter durch die überschwemmte Landschaft auf die Überreste des Gebäudes zu, das fast ein Jahrzehnt lang ihr Zuhause gewesen war. Vor der alles zerstörenden Welle hatte die Landschaft rund um das Haus einem Naturschutzgebiet aus blühenden Gärten und Obstbäumen geglichen. Bald nachdem Naresh mit seiner Familie aus Delhi hergezogen war, hatte er nahe am Haus einen Ashoka-Baum zu Ehren von Sita gepflanzt. Als Kind hatte sie oft unter dem immergrünen Bäumchen gespielt und sich vorgestellt, wie ihre Namenspatronin, die Heldin des indischen Nationalepos Ramayana, von Hanuman, dem edlen Affengott, aus ihrer Gefangenschaft auf der Insel Lanka gerettet wurde. Jetzt waren der Ashoka-Baum und all seine ehemals grünen Gefährten nur noch zerzauste Gerippe: kahle Stämme ohne Blätter, Äste und Blüten.
Sita blieb neben den Resten ihres geliebten Baumes stehen, aber Ahalya zog sie weiter. Die Fenster im Erdgeschoss waren von der Welle herausgerissen worden, und die meisten Möbel trieben nun im überfluteten Hof. Trotzdem wirkte das Gebäude insgesamt intakt. Während die Mädchen sich der weit offen stehenden Haustür näherten, lauschte Ahalya angestrengt nach menschlichen Stimmen, konnte jedoch keine hören. Im Haus war es still wie in einer Krypta.
Beim Betreten der Diele rümpfte Ahalya die Nase, weil die Luft so modrig roch. Als sie einen vorsichtigen Blick ins Wohnzimmer warf, sah sie ihre Großmutter mit dem Gesicht nach unten neben einer schlammverkrusteten Couch in der braunen Brühe treiben. Neue Tränen schossen ihr in die Augen, doch inzwischen war sie zu erschöpft zum Weinen. Nachdem sie auf ihren toten Vater gestoßen waren, hatte sie schon halb damit gerechnet, dass ihre
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