Du bist in meiner Hand
1
Kinder spielen am Meeresstrand der Welten.
RABINDRANATH TAGORE
Tamil Nadu – Indien
An dem Morgen, als ihre Welt zerbrach, lag das Meer ganz ruhig da. Sie waren Schwestern – Ahalya war siebzehn, Sita zwei Jahre jünger. Wie schon ihre Mutter waren sie Kinder des Meeres. Als ihr Vater, ein Software-Manager, mit der Familie aus den Ebenen von Delhi nach Chennai an der Koromandelküste umgezogen war, hatten Ahalya und Sita es wie eine Heimkehr empfunden. Sie betrachteten das Meer als ihren Freund und Gefährten, nie hätten sie geglaubt, dass es sich gegen sie wenden könnte. Aber sie waren jung und wussten noch wenig von Leid und Schmerz.
Ahalya spürte es, als im Morgengrauen die Erde bebte. Sie warf einen Blick zu Sita, die neben ihr schlief, und wunderte sich, dass ihre Schwester nicht aufwachte. Die Erschütterungen waren heftig, hörten aber schnell wieder auf, und Ahalya fragte sich anschließend, ob sie das Beben nur geträumt hatte. Im Erdgeschoss rührte sich niemand. Es war der zweite Weihnachtsfeiertag, ein Sonntag, und ganz Indien schlief.
Ahalya kuschelte sich wieder in ihre Decke und atmete den süßen Sandelholzduft ein, den das Haar ihrer Schwester verströmte. Ihre Gedanken wanderten zu dem pfauenblauen Salwar Kameez, einem Geschenk ihres Vaters für den bevorstehenden Konzertabend am Konservatorium von Mylapore. In diesen Wochen um den Jahreswechsel war die Madras-Musiksaison in vollem Gange. Ihr Vater hatte ihnen Karten für ein Geigenkonzert besorgt, das an diesem Abend um acht Uhr stattfinden sollte. Ahalya und Sita lernten beide Geige.
Allmählich erwachte der Haushalt. Um Viertel nach sieben holte Jaya, die langjährige Haushälterin der Familie, ein kleines Gefäß voll Kalkstaub aus der Kommode am Fußende ihres Bettes und trat damit vor die Haustür. Sie fegte den Eingangsbereich zunächst mit einem steifen Besen, streute anschließend weiße Kalkpunkte auf den Boden und verband diese dann mit eleganten Linien zur Sternform einer Jasminblüte. Als sie mit ihrem Werk zufrieden war, legte sie die Handflächen zum Gebet aneinander und bat Lakshmi, die hinduistische Glücksgöttin, um einen guten Tag. Nachdem sie auf diese Weise das Kolam-Ritual vollzogen hatte, ging sie in die Küche, um das Frühstück vorzubereiten.
Ahalya erwachte erst wieder, als schon helles Sonnenlicht durch die Vorhänge fiel. Sita, die immer früh aufstand, war schon fast fertig angezogen. Ihr tiefschwarzes Haar glänzte, noch feucht von der Dusche. Ahalya sah zu, wie ihre Schwester sich vor dem Spiegel schminkte, und lächelte. Sita war zart gebaut und hatte die feinen Gesichtszüge und großen, ausdrucksvollen Augen ihrer Mutter Ambini geerbt. Für ihr Alter wirkte sie recht schmal, erst die Pubertät würde ihr weiblichere Formen verleihen. Sita selbst war über ihr mädchenhaftes Aussehen weniger glücklich, auch wenn Ahalya und Ambini ihr immer wieder versicherten, dass sich die von ihr herbeigesehnten Veränderungen mit der Zeit ganz von selbst einstellen würden.
Um Sitas Vorsprung wieder wettzumachen und nicht zu spät zum Frühstück zu kommen, schlüpfte Ahalya eilig in einen gelben Churidar, einen Hosenanzug, und schlang sich einen farblich passenden Schal um den Hals.
»Fertig, meine Liebe?«, wandte sich Ahalya auf Englisch an Sita. Im Haushalt der Familie Ghai galt die Regel, dass die Mädchen nur dann Hindi oder Tamil sprechen durften, wenn ein Erwachsener sie in der jeweiligen Sprache anredete. Wie alle Inder der gehobenen Mittelschicht träumten ihre Eltern davon, sie zum Studium nach England zu schicken, am besten nach Oxford oder Cambridge. An dem von Klosterschwestern geführten Internat, das die Mädchen besuchten, wurden neben Englisch auch die Landessprache Hindi und Tamil – die alte, regionale Sprache der Einwohner von Tamil Nadu – unterrichtet, aber die Klosterschwestern bevorzugten Englisch, und die Mädchen widersetzten sich nicht.
»Ja«, seufzte Sita und warf dabei einen unzufriedenen Blick in den Spiegel, »ich schätze schon.«
»Ach, Sita«, schalt Ahalya sie, »mit gerunzelter Stirn wirst du Vikram Pillai aber nicht gefallen.«
Ahalyas Bemerkung zeitigte die gewünschte Wirkung: Beim Gedanken an die abendlichen Pläne der Familie hellte sich Sitas Miene sichtlich auf. Vikram Pillai war ihr Lieblingsgeiger.
»Glaubst du, wir werden Gelegenheit haben, mit ihm zu sprechen?«, fragte Sita. »Die Schlange nach dem Konzert ist immer so lang.«
»Frag Baba «, gab ihr
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