Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
Rauchschwaden steigen über 100 Meter hoch und verdüstern den Himmel. Alle paar Sekunden schlägt fauchend eines dieser schweren Geschosse ein. Jeder Einschlag ist wie ein Erdbeben.
»Wo ist Abdul Latif?«, frage ich mehrfach Julia und Yussuf. »Wir müssen ihn suchen.« Yussuf verdreht die Augen. Er hält mich für verrückt. »Tot«, raunt er. Er habe gesehen, wie er in sein Auto gestiegen sei. »Ich stand neben ihm. Er ist im Auto verbrannt.« Mit der rechten Hand macht er die Bewegung des Schlüsselumdrehens. »Ich gehe ihn suchen«, flüstere ich Julia zu. Doch jetzt wird Julia, die bisher kein Wort gesagt hat, zornig: »Das ist doch einfach nur verrückt«, zischt sie. »Dann bist erst du tot und danach wir. Wir sind doch hier nicht in einem James-Bond-Film. Abdul Latif ist tot.«
Ich liege völlig entmutigt zwischen Yussuf und Julia. Im Grunde möchte ich weinen. Um Mister Sonnenschein, um Mister »Why not«, um Abdul Latif. Doch ich weiß, dass ich Julia und Yussuf jetzt Kraft geben sollte, obwohl ich selber keine mehr habe. Um uns herum pflügen Gaddafis Truppen die Wüste um. Irgendwann werden auch wir untergepflügt. Wenn wir nur den geringsten Fehler machen.
Julia fragt, ob ich den Hemingway-Film Wem die Stunde schlägt gesehen hätte. Habe ich, aber ich will nicht darüber reden. Der Film geht ja schlecht aus. Doch Julia, der tausend Bilder durch den Kopf rasen, lässt nicht locker. Wenn wir uns schon nicht wehren können, möchte sie wenigstens darüber sprechen. Sie ist schließlich die engste Freundin meiner Tochter Valérie, fast ein Mitglied der Familie. »Was glaubst du, wie lange leben wir noch?«, fragt sie. Ich antworte: »Zwanzig Minuten, zwanzig Jahre, ich weiß es nicht.« Ich versuche, ihr Mut zu machen. »Wir kommen hier wieder raus. Irgendwie.« Aber Julia, die wenigstens noch einmal ihre Eltern in Bayern sehen möchte, ist sich da nicht mehr so sicher. Doch sie nickt tapfer.
Ich sage ihr nicht, dass unsere Chancen, hier rauszukommen, nicht viel größer sind als die der zu Asche verbrannten Fahrzeuginsassen im »Tal der Flammen«. Wir sitzen in einer Todesfalle. Gaddafis Schützen kreisen uns systematisch ein. Der Mörser-, Granaten- und Raketenring wird immer enger. Irgendwann werden sie vielleicht einen Jeep zu uns rüberschicken, um alles zu beenden. Das wäre auch billiger als das sinnlose Höllenfeuerwerk, das sie unaufhörlich abbrennen.
Julia kann offenbar Gedanken lesen. »Soll ich die Filme mit den Rebellen löschen für den Fall, dass sie einen Jeep schicken?«, fragt sie. »Das hilft uns dann auch nicht mehr«, antworte ich. An meiner Jacke trage ich das Abzeichen der Rebellen in den Farben des befreiten Libyen. »Sie werden mir den Kopf abschneiden, wenn sie das sehen«, denke ich. Aber das Zeichen bleibt am Revers.
Ich überlege, welches meiner drei Kinder wen anrufen wird, wenn uns eine dieser verdammten Granaten trifft. Ich weiß genau, wie jedes einzelne von ihnen reagieren wird. Aber wird man überhaupt erfahren, was hier geschehen ist?
Ein dicker, schwarzer Wüstenkäfer versucht, vom Kamm der Düne auf uns zuzukrabbeln. Auf halber Höhe überschlägt er sich. Vorsichtig setze ich ihn auf die Dünenkante zurück. Nach einer Weile rollt er wieder auf uns zu. Für Steilhänge unbegabt.
Plötzlich sehe ich zwischen Julia und mir einen leuchtend gelben Punkt. Die Lasermarkierung eines Scharfschützen? Für einen Augenblick stockt mir der Atem. Ich sehe mich nach allen Seiten um. Doch dann stellt sich die Lasermarkierung als schimmernde Wüstenspinne heraus. Ich lege sie unter die Zweige eines Kreuzdorns, der einzigen Buschart, die hier wächst.
Alle haben Durst und Hunger. Seit dem kargen Frühstück in Bengasi hat es außer Maracujasaft und einer Dattel nichts mehr gegeben. Julia denkt an Abdul Latifs Dattelkernstrategie. Da sie keine Dattel hat, nimmt sie einen Stein in den Mund, um ihren Durst zu vergessen.
Das Raketen- und Granatfeuer lässt nicht nach. Dumpf rumpelnd schlagen die Geschosse ein. Neben und vor uns tanzen die Sandkörner auf der bebenden Erde. »Die verballern ein Vermögen«, sagt Julia. »Wir scheinen ihnen viel wert zu sein.« Ein Ende des Beschusses ist nicht abzusehen. Alle paar Minuten schlagen Granaten ein. Unablässig.
Der Angriff im »Tal der Flammen« fand um 15.30 Uhr statt. Jetzt sind etwa zwei Stunden vorbei. Erst um 19 Uhr wird es dunkel. Bis dahin sind wir entweder von Granaten zermalmt oder erfroren. Es wird kälter. Auch der
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